Als nächsten stellt sich die Frage: Warum habe ich dieses Thema „Furchtlosigkeit“ gewählt? Einerseits gibt es dazu einen aktuellen Anlass, nämlich die Coronakrise. Bei vielen Menschen – insbesondere bei solchen die zu Ängstlichkeit neigen – manifestiert diese sich jetzt in einer konkreten Furcht: sich mit Covid-19 zu infizieren, daran zu erkranken, möglicherweise andere zu infizieren oder selbst zu sterben. Andererseits ist Furchtlosigkeit ein Begriff im Buddhismus. Wo kommt diese Furchtlosigkeit vor?
nämlich materielles Geben,
das Geben von Erziehung,
das Geben von Leben und Körperteilen (also z. B. eine Blut- oder Knochenmarksspende)
das Abgeben der Verdienste (wir sprechen am Ende jeder unserer Veranstaltungen etwas, das „Abgabe der Verdienste“ heißt),
das Weitergeben des Dharma und
die Gabe der Furchtlosigkeit.
Mir erscheint die Gabe der Furchtlosigkeit in einer Zeit, in der Klimakrise, Demokratiekrise, Coronakrise und Ukrainekrise eine Bedrohung darstellen, ein ganz aktuelles Thema zu sein, daher möchte ich heute darüber sprechen. Aber eigentlich ist die Gabe von Furchtlosigkeit immer aktuell. Selbst für den späteren Buddha waren Befürchtungen – oder eher diffuse Ängste – zunächst der Grund, in die Hauslosigkeit zu gehen, es waren Ängste die wir alle teilen.
Der spätere Buddha hat diese alsdann klar benannt, um so aus den diffusen Ängste klare Befürchtungen heraus zu isolieren, der Buddha sprach von (Wieder-)Geburt, Alter, Krankheit und Tod als konkreten, da unabänderlichen Befürchtungen, dazu kommen die Ängste mit Unliebem vereint und vom Lieben getrennt zu sein.
Der Buddha hat in einer seiner zentralen Lehrreden, dem Bhayabherava Sutta (MN 4), der deutsche Titel heißt „Furcht und Schrecken“, einem Brahmanen erläutert, wie er selbst, der Buddha, Furcht und Schrecken überwunden hat, nämlich die diffusen Ängste und konkreten Befürchtungen, die man hat, wenn man alleine in einem Dschungel mit allen seinen Gefahren meditiert. Und er hat festgestellt, dass die wichtigsten Ursachen sind
eigenes ungeläutertes körperliches Verhalten (also: welche üblen Handlungen begehe ich)
eigenes ungeläutertes sprachliches Verhalten
eigenes ungeläutertes geistiges Verhalten
Begierde
hasserfüllte Absichten
Trägheit und Mattigkeit
ein rastloses, unruhiges Gemüt
Unsicherheit und Zweifelssucht
Neigung zu Eigenlob und Herabsetzung anderer
krankhafte Ängstlichkeit
Verlangen nach Gewinn, Ruhm und Ehre
Faulheit und Energielosigkeit
Unachtsamkeit
Unkonzentriertheit
Schwatzsucht
All das sind relativ grobe Fehler, die man überwinden sollte, um zu mehr Furchtlosigkeit zu kommen. Hierbei können Meditation und Reflexion über die Folgen solchen Verhaltens Abhilfe schaffen. Und der Buddha konnte von sich sagen, dass er all dieses abgelegt habe, weshalb er bei Tag keinerlei Furcht mehr empfand. Jedoch stiegen nachts weiter Ängste in ihm auf. Er löste das Problem, indem er bewusst dorthin ging, wo solche Ängste aufstiegen. Und er stellte fest (wörtlich):
"Wenn ich dort ging, und Furcht und Schrecken kamen, ging ich einfach weiter und wartete, was geschähe.
Wenn ich dort in Furcht und Schrecken saß, blieb ich einfach sitzen und wartete, was geschähe.
Und wenn ich dort lag und Furcht und Schrecken kamen, blieb ich einfach liegen.
Als Ergebnis stellte ich fest, dass die Angst bei Dunkelheit auch noch den befällt, der bei Tag frei davon ist. Ich sagte mir: dann ist das eben so und begab mich in Meditation. Meine Meditation war von Hinwendung des Geistes, Verzückung und Glückseligkeit geprägt und ich erreichte die erste Vertiefung."
Wir sehen also: der Buddha hat zunächst durch ethische Selbstdisziplin die groben Ursachen ausgeschaltet und sich dann an dem orientiert, was heute unter „Gelassenheitsgebet“ bekannt ist, nämlich
er hatte den Mut, Dinge zu ändern, die er ändern konnte,
er hatte die Gelassenheit hinzunehmen, was er nicht ändern konnte,
und er hatte die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
Das also ist der Ansatz, den der Buddha hatte, der im Palikanon überliefert ist und der im Buddhismus bis heute die wichtigste Empfehlung ist.
Mitunter fühlen wir uns aber als Einzelne aber zu schwach, das umzusetzen. Davon geht auch das Mahayana aus. Es ist der Meinung, der vom Buddha aufgezeigte Weg sei zwar hervorragend, aber für die meisten schwachen Menschen zu anspruchsvoll, er sei nur für die spirituelle Elite gangbar. Und da das Mahayana für sich in Anspruch nimmt, „das große Fahrzeug“ zu sein, mit dem alle Menschen zum Erwachen kommen können, hat es sein Instrumentarium erweitert, damit auch diejenigen, die sich mit dem im Bhayabherava Sutta (MN 4) eher schwer tun, erfolgreich ihre Furcht bekämpfen können.
Das Mahayana vertraut daher nicht nur auf die eigene Kraft, auf die self-power, auf japanisch jiriki (自力), sondern bietet als Ergänzung die Nutzung einer Kraft von außen, der other-power, auf japanisch tariki (他力). Wie kraftvoll die Hoffnung auf äußere Unterstützung sein kann, ist aus vielen Religionen bekannt. Vielleicht kennt ihr Wallfahrtsorte in Deutschland, wo Christen Dankestafeln für geleistete „Wunder“ aufhängen, die sie einem oder einer Heiligen zuschreiben, häufig der hl. Maria, der sog. Muttergottes.
Das Mahayana geht davon aus, dass es diese other-power gibt. Ich selbst war diesem Gedanken in den 90er Jahren noch vollkommen abgeneigt, habe aber seit einer Begegnung 2001 mit einer solchen Kraft eine völlig andere Haltung eingenommen. Über diese Begegnung möchte ich heute hier aber nicht sprechen, das würde den zeitlichen Rahmen sprengen.
Im Mahyana-Buddhismus wird diese other-power durch Figuren versinnbildlicht, wie sie in unserem Meditationsraum abgebildet sind. Wir haben dort zwei große Abbildungen von Manjughosa, der für Weisheit steht, und von der Grünen Tara, die Mitgefühl symbolisiert. Außerdem haben wir rechts vom Schrein ein Mandala mit fünf Buddhafiguren in verschiedenen Farben, die für verschiedene Aspekte des Transzendenten stehen, für verschiedene Weisheiten und verschiedene Fähigkeiten.
Eine dieser Figuren ist Amoghasiddhi im Norden des Mandalas (d. h. in der Abbildung rechts). Das Wort Amoghasiddhi bedeutet übrigens „unfehlbarer Erfolg“ oder „ungehinderte Vollendung“ und Amoghasiddhis Farbe ist grün, d. h. er wird mit grüner Haut dargestellt. Seine rechte Hand ist erhoben, die Handfläche uns zugewandt wie im römischen Gruß. Diese mudra, diese Geste, ist die abhaya-mudra, die Geste des Gebens von Furchtlosigkeit. Ich will hier gar nicht auf diese Figur im einzelnen eingehen, aber sie symbolisiert unfehlbaren Erfolg, steht für alles vollendende Weisheit, für Erlösung und die Gabe der Furchtlosigkeit.
Ihr könnt über diese Figur recherchieren, man kann über diese Figur meditieren und man kann sich auch an diese Figur – wie in einem Gebet – wenden. Ich denke allerdings, dass dies nur wirklich funktioniert, wenn man eine gewisse Beziehung zu diesen Kräften des Transzendenten, die für uns personalisiert dargestellt werden, bereits aufgebaut hat. Ich habe mich in einer von panischer Angst und von Befürchtungen geprägten Situation im Jahre 2016 an Amoghasiddhi gewendet und ich habe tatsächlich in wunderbarer Weise umgehend Hilfe erfahren, wie ich das früher nicht für möglich gehalten hätte. Auch darüber möchte ich heute nichts erzählen, das würde zu weit führen.
Für mich sind diese bildnerisch dargestellten Figuren, und ganz besonders Amoghasiddhi, ein wichtiges Tor zum Transzendenten.
Auf meinem Schrein hier in meinem Zimmer in Thüringen steht im Zentrum selbstverständlich eine Buddhafigur, zu der ich aufblicke. Direkt davor und etwas niedriger, aber immer noch deutlich höher als mein Kopf bei der Meditation, steht die Grüne Tara, eine Bodhisattva, über die ich häufig meditiere. Und davor, noch etwas niedriger, aber immer noch so, dass ich in Sitzhaltung dazu aufschauen muss, steht Amoghasiddhi, derjenige, der Furchtlosigkeit gibt.
Den Zusammenhang zwischen Furchtlosigkeit und dem Buddha habe ich zu Beginn mit dem Sutta von „Furcht und Schrecken“ erläutert, den Zusammenhang von Amoghasiddhi mit Furchtlosigkeit habe ich gerade erläutert, doch gibt es auch einen Zusammenhang zwischen der Grünen Tara und dem Thema Furchtlosigkeit?
Ja, den gibt es eindeutig. Die von mir in den letzten drei Jahren mit Absatnd am häufigsten gefeierte Puja ist die Tara-Puja von Vessantara. Allein in einem der sieben Abschnitte dieser Puja, im „Eingeständnis von Fehlern“ kommt das Wort „furchtlos“ zweimal vor und das Wort „Angst“ oder „Ängste“ sogar 25 Mal! So heißt es dort unter anderem.
"Dir gestehe ich sogar die noch tiefer liegenden Ängste:
die Angst verrückt (dement) zu werden
die Angst vor dem Tod,
die Angst vor dem Leben.“
Furchtlosigkeit ist für mich wichtig, denn ich sehe verschiedene große Krisen, die uns bedrohen. Die mit Abstand wichtigste Krise ist die Klimakrise, denn sie bedroht den Planeten als Lebensraum für hochentwickelte Wesen. Dieser blaue Planet, dieses Juwel im Ozean der Leerheit, ist der einzige uns bekannte Ort, an dem die Evolution so weit fortgeschritten ist, dass Höhere Evolution, Vollkommenheit, Erleuchtung, das Erreichen von Buddhaschaft möglich ist. Durch unmäßige Gier und durch Verblendung sind wir soweit gekommen, den Ast, auf dem wir sitzen, abzusägen, den Planeten, der die Basis unseres Erleuchtungsstebens ist, zu zerstören. Angesichts dieser Krise setze ich auf meine eigenen Beiträge, auf das, was ich individuell tun kann, um die Zerstörung des Planeten weniger wahrscheinlich werden zu lassen, auf jiriki, auf self-power. Und im Kontakt mit Amoghasiddhi und mit der Grünen Tara setze ich auch auf other-power, auf tariki, denn meine eigene Kraft wird dazu nicht ausreichen.
Die zweite große Krise ist in meinen Augen die Krise der Demokratie. In der ganzen Welt mehren sich die antidemokratischen Kräfte. China schickt sich an, die bestimmende Supermacht zu werden – ein eindeutig autoritär regiertes Land. In den USA ist die Demokratie offensichtlich stark gefährdet, in vielen europäischen und außereuopäischen Ländern ebenfalls. Selbst in Deutschland nehmen demokratiefeindliche Bestrebungen und sog. Querdenker, die Informationen fast nur noch aus obskuren Quellen beziehen, zu. Ja, das ist ein Zeichen von Vergänglichkeit. Vielleicht geht auch die Zeit der Demokratien wieder einmal zu Ende. Am Ende der demokratischen Epochen steht gewöhnlich die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels, der Uniformierten und dann folgt gewöhnlich der Übergang in die Diktatur. Mir hat der Vorgeschmack, den wir im Dritten Reich hatten, gelangt, um die Krise der Demokratie als zweitwichtigstes Problem zu sehen.
Und dann gibt es da noch diese dritte Krise, die Coronakrise, die viele von uns mehr umtreibt, als diese beiden anderen Krisen, weil wir sie unmittelbarer empfinden, obwohl die beiden anderen wesentlich bedrohlicher sind. Aber die Coronakrise wird von den meisten von uns unmittelbarer erlebt, weil sie unser eigenes Leben, unser Ego, bedroht, und alle die Bequemlichkeiten, in denen wir uns so schön eingerichtet hatten.
Von daher können wir aus der Coronakrise eine Menge lernen. Dukkha (Leiden) wird unmittelbarer, anicca (Vergänglichkeiz) wird offensichtlicher (alles ändert sich, selbst die Regeln für unser Zusammenleben ändern sich – zumindestens gefühlt – fast wöchentlich). Wenn uns das aber zu vertieftem Bemühen bringt, uns selbst zu entwickeln, dann wird auch der anatta-Gedanke in uns gestärkt, und wir werden uns der anderen beiden, der wichtigeren, Krisen bewusster.
Gerade in der Coronakrise sehe ich derzeit eine Tendenz, das zu machen, wovor der Buddha warnte, nämlich vor den Extremen. Da gibt es einerseits die Leugner. Es gibt inzwischen nicht nur Holocaust-Leugner und Klimakrisen-Leugner sondern eben auch Coronaleugner und militante Impfgegner, die sich oft vor allem aus obskuren Quellen informieren und gegen die seriöse Presse mit dem Goebbelswort „Lügenpresse“ vorgehen. Und da gibt es andererseits Leute, die panische Angst haben, die sogar die Maske aufsetzen, wenn sie allein im Auto fahren und plötzlich in jeder Begegnung mit anderen ein Risiko sehen. Geradeso als wüssten sie nicht, dass es ein allgemeines Lebensrisiko gibt und dass die weitaus meisten Leben tödlich enden. Wie anders ging doch der Buddha in seinem Sutta „Furcht und Schrecken“ vor. Zwischen den beiden Extremen von Leugnung des Problems und panischer, lähmender Angst gibt es auch das, was der Buddha empfahl: den Mittelweg.
Ja, wir können diesen Mittelweg gehen. Indem wir so couragiert sind wie der Buddha: mit jiriki, mit self-power. Oder, wem das zu tough ist, indem wir auf die other-power vertrauen, auf tariki, auf die transzendenten Verbündenden wie Amoghasiddhi und die Grüne Tara.
Zum Abschluss möchte ich daher den Abschnitt „Eingeständnis von Fehlern“ aus der oben erwähnten Tara-Puja hier vortragen:
Eingeständnis von Fehlern
Furchtlose Fürstin,
mächtige Königin,
du errettest die Wesen vor den acht großen Schrecken1,
vor wilden Tieren, Räubern und allen anderen Gefahren,
bitte rette mich vor den tausend Sorgen und Ängsten
die meinen Herz-Geist in Besitz nehmen.
Dir gestehe ich alle gewöhnlichen Sorgen und Ängste,
die meinen Tag so anfüllen,
dass ich kaum Luft holen kann:
Angst, die mich zurückhält,
Angst, die mir eine Maske aufsetzt,
Angst, mit anderen zusammen zu sein,
Angst, allein zu sein,
Angst, die mich hart, eng und unfreundlich macht
Angst, nicht zu bekommen, was ich will,
was mich gierig und selbstbezogen macht.
Dir gestehe ich sogar die tiefer liegenden Ängste:
die Angst, verrückt zu werden,
die Angst vor dem Tod,
die Angst vor dem Leben,
die Angst vor allem,
was jenseits des Panzers
meines eigenen Ichs liegt.
Dir gestehe ich vor allem die Ängste,
die mich abhalten,
mich ganz dem Dharma hinzugeben:
Angst, mich tiefer auf den Pfad einzulassen,
Angst vor Veränderung,
Angst vor Entsagung,
Angst vor Großzügigkeit,
Angst vor dem eigenen Mut,
Angst, tiefer zu gehen,
Angst vor Freiheit,
Angst vor Weisheit,
Angst, mein Leben allen Wesen zu widmen.
Diese Ängste kommen nicht von ungefähr,
sie entspringen unzähligen Entscheidungen und Taten
in vielen Leben –
der Entscheidung für Unbewusstheit,
der Entscheidung für Mutlosigkeit,
der Entscheidung, meinen Kopf in Saṃsara zu vergraben.
Bitte vergib mir,
und hilf mir, diese Ängste zu deinen Füßen abzulegen.
Mögest du sie alle befrieden.
O liebende Tārā.
bitte, nimm meine zitternde Hand in deine,
und forme sie sanft zur Mūdra der Furchtlosigkeit.
1Das sind
der Löwe, er steht für Stolz, weil er sich für den König der Tiere hält,
(2.) der Elefant, er steht für unsere Verblendung, die riesengroß ist wie ein Elefant – und ebenso schwer beiseite zu schieben,
(3) Feuer, dies steht für Wut und Zorn, denn wie ein Feuer unser über Jahrzehnte ausgebautes Haus über Nacht zerstören kann, so kann auch ein Zornesausbruch alle mühsam erworbene Reputation zunichte machen,
(4) Schlangen stehen für Neid und Eifersucht, den sie können unser Leben vergiften oder uns würgen,
(5) Räuber stehen für falsche Ansichten, denn sie rauben uns die klare Sicht auf die Dinge,
(6) Gefangenschaft steht für Habgier, denn unsere Gier hält uns gefangen in samsara,
(7) Schiffbruch steht für Anhaftung, denn alles, woran wir anhaften, wird untergehen, was uns scheitern lässt und schließlich
(8) Dämonen, sie stehen für Zweifelssucht, denn diese kann uns besessen machen wie ein Dämon
Zu
Meditation
am Obermarkt
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