Das traumhaft schöne Mädchen
erzählt von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
letzte Änderungen: 2014-12-12
Er hieß Roger und er war schon lange auf der Suche nach einem Meister, nach einem Meister, der ihm die Mysterien des Dharma öffnen würde. Nun endlich hatte er von Lama Sunya gehört, einem Meister, der in der Provinzhauptstadt zu Gast war. Roger war dorthin gereist, hatte sich in einer Pension eingemietet und einen Termin mit dem großen Lama ausgemacht, schon in der nächsten Woche. Roger fieberte diesem Tag entgegen. Welche Einweihung würde ihm der Meister geben? Würde er ihn als Schüler akzeptieren?

Endlich war der große Tag da, und Roger ging zur Klause des Meisters. "Großer Meister", sprach er ihn an, " ich bin seit vielen Jahren auf der Suche nach Erkenntnis, nach Weisheit, nach einer tiefgründigen Belehrung. Nun habe ich vernommen, dass Ihr in der Stadt weilt, und nichts konnte mich, einen unerfahrenen Weisheitsliebenden, davon abhalten, Euch aufzusuchen um Euch um eine Belehrung zu bitten."

"Wohlan denn, junger Mann, da habt ihr Recht getan, gern will ich euch eine wirklich tiefgründige Belehrung geben. Aber kommt zuerst einmal zur Ruhe, ihr wirkt ja ganz abhetzt. Setzt euch hernieder und trinkt eine Tasse Tee mit mir, danach gebe ich euch gerne die gewünschte Belehrung. Ich habe den Tee, eine erlesene Mischung, der am Fuße des Geiergipfels im indischen Bihar wächst, frisch aufgebrüht. Sicher ist euch bekannt, dass dort, am Geiergipfel, vor vielen Jahrhunderten der Buddha selbst lehrte." Der junge Mann war frohen Mutes, dass ihn der alte Meister so überaus freundlich empfing, und seine vorherige Anspannung ließ merklich nach.

Der Meister brachte die Teekanne, stellte eine Teeschale vor Roger und schenkte den heißen, frisch gebrühten Tee ein: "Trinkt mit Genuss und in Ruhe, junger Mann, danach werde ich euch die gewünschte Belehrung erteilen."

Dankbar nahm der junge Mann den dampfenden Tee in der henkellosen Schale vom Meister an und führte ihn zum Mund. Es war eine große Teeschale und der Dampf lag über dem Getränk wie Nebel über einem See an einem lauen Maienabend, wenn die Sonne untergeht und das milde Licht des Mondes beginnt, die Szenerie in ein angenehm gedämpftes Halbdunkel zu verwandeln.

Es war ein schöner, großer Bergsee, Wälder umsäumten ihn, und im Hintergrund erhoben sich die hohen Bergketten der Ausläufer des erhabenen Himalaya. Eine tiefe Ruhe und Stille, eine Einheit mit sich und der Welt breitete sich im Herzen des jungen Mannes aus.

Und wie er so dastand, überwältigt  von der erhabenen Schönheit der romantischen Natur, trat ein Mädchen ebenfalls an den See, sie war gekommen, um einen Eimer Wasser zu füllen. Amanda trug langes, offenes Haar und ein weites, luftiges Kleid umspielte ihren jungen, duftigen Körper. Niemals hatte Roger ein Geschöpf von schönerem Liebreiz gesehen und, wenn jemals der Ausdruck von "Liebe auf den ersten Blick" seine Berechtigung hatte, dann hier.

Er sehnte sich nach diesem vollkommensten aller Geschöpfe und hätte gewiss sein Leben dafür gegeben, einen Tag mit ihr verbringen zu dürfen. Selbstverständlich erbot er sich, ihr den Eimer nach Hause zu tragen, und mit einem freundlichen Lächeln willigte sie ein.

Während sie nebeneinander hergingen sprachen sie miteinander und sowohl ihre Worte als auch ihr Blick verrieten ihm, dass sie genauso verliebt war wie er. Der junge Mann folgte der schönen Amanda bis zu ihrer Heimstatt, wo sie mit ihren Eltern zusammenlebte, und Roger konnte sei  Glück nicht fassen, als er erfuhr, dass das alte Gebäude neben deren Haus leerstand und die Eltern froh wären, wenn dort jemand einzöge und das Haus wieder instand setzte.

Eifrig werkte Roger dort in den nächsten Wochen und Monaten, alles entwickelte sich völlig natürlich, und alle waren sich darüber einig, dass Roger dort bleiben und das bezaubernde Geschöpf zur Gemahlin nehmen würde. Die Hochzeit war kein großes Ereignis, denn das Dorf war klein, aber natürlich feierten sie alle zusammen. Übers Jahr wurde die junge Frau schwanger und gebar einen kräftigen Sohn und zwei Jahre später auch noch ein Mädchen, das seiner Mutter in Schönheit und Anmut nicht im Mindesten nachstand.

Es war eine Ehe von traumhafter Vollkommenheit und auch die Tatsache, dass im Laufe der folgenden Jahre Amandas Eltern starben, tat dem ruhigen Frieden, in dem die junge Familie lebte, keinen Abbruch. Die Dinge waren so, wie sie eben sind, die Kinder waren geboren worden und die alten Eltern verstorben, es war der Lauf der Dinge, aber über alldem lag die Liebe des trauten Paares und das Familienglück, das so gar nicht von den bei anderen Familien nur allzu häufigen Streitigkeiten getrübt war. Sie hatten einander, und etwas Schöneres konnte es auf der ganzen Welt nicht geben.

Erst als der Knabe vierzehn war, legte sich ein erster Schatten über das Familienglück, denn der Junge erkrankte. Es war eine lange und schwere Krankheit, und der Knabe wurde mit der Zeit immer schwächer.

Leider kamen im Dorf inzwischen auch Gerüchte auf über den fremden jungen Mann, über Roger, dessen Herkunft keiner wirklich kannte. Er hatte sich inmitten des Dorfes breitgemacht und war es nicht so, dass bald darauf ohne ersichtlichen Grund seine Schwigereltern verstarben? Wer hatte daraufhin alles geerbt? Der Fremde, der Zugezogene, der, von dem niemand wusste, woher er kam und mit wem er im Bunde war. Misstrauen machte sich in dem Dorf breit, die Leute gingen Roger und seiner Frau aus dem Wege, tuschelten miteinander.

Dann starb der Sohn.

Keiner der Dorfbewohner kam zu seiner Beerdigung. Roger, seine Frau und seine Tochter waren inzwischen als vom Bösen besessen identifiziert. Da war dieser fremde Mann, Roger, ins Dorf gekommen, hatte sich das schönste Mädchen wie im Fluge erobert, so dass keiner der jungen Männer im Dorfe auch nur die geringste Chance bei ihr hatte. Dann hatte er ihre alten Eltern umgarnt, sich zunächst das alte Anwesen neben dem Elternhaus unter den Nagel gerissen, das plötzlich - wie durch magische Kraft - in neuer Schönheit erstrahlte. Dann raffte eine unbekannte Krankheit – oder war es Gift gewesen? – dessen Schwiegereltern dahin, sodass er auch noch deren Anwesen erbte. Das konnte einfach nicht mit rechten Dingen zugehen, der Kerl musste doch wohl mit dunklen Mächten im Bunde sein.

Im nächsten Monat wurde die Tochter im Walde vom Tiger angefallen und getötet. Jetzt war es allen Dorfbewohnern klar: die finsteren Mächte, mit denen Roger im Bunde war, verlangten ihre Opfer - und dieser junge Mann hatte sich offensichtlich mit den Mächten der Finsternis verbündet und ihnen für dieses Bündnis im Austausch seine eigenen Kinder versprochen. Nun forderten diese Mächte der Finsternis ihren Tribut. Hatte er vielleicht das ganze Dorf an den Fürsten der Dunkelheit verkauft, damit er alle Häuser erben konnte?

Am nächsten Morgen war das Haus, in dem Roger und Amanda wohnten, verschmiert: jemand hatte das Zeichen der Gottheiten der Finsternis darauf gemalt.

Allein begrub Roger seine Tochter, seine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch.

Der Hass der Dorfgemeinschaft war kaum noch auszuhalten, daher beschloss das inzwischen nicht mehr ganz so junge Paar, wegzuziehen, gleich am nächsten Morgen. Sie packten alles zusammen, was man mitnehmen konnte. Am nächsten Morgen in aller Frühe wollten sie das Dorf endgültig verlassen und ihr Heil in der Flucht suchen.

Doch als der Morgen gekommen war, klagte Amanda darüber, dass sie nicht aufstehen konnte, ihre Beine versagten. Roger war außer sich, hatte man sich nicht auf ein gemeinsames Weggehen geeinigt? Und jetzt kam seine Frau mit so einer Geschichte? Sie war doch augenscheinlich gesund und stellte sich auf einmal derart an!

"Wenn Du noch einen Funken Liebe zu mir verspürst, dann stehst Du jetzt augenblicklich auf und kommst mit!" schrie Roger zum ersten Mal in seinem Leben seine Frau an. Amanda stand mit letzter Kraft auf, was war nur in ihren lieben Mann gefahren? Sicher war er genauso unglücklich wie sie. Aber sie wollte ihm dennoch eine gute und folgsame Frau sein, also stand sie auf und schleppte sich zur Tür, so gut es eben ging. Sie sah ihren wütenden Gemahl mit verschrecktem  Blick an, ihr Mund öffnete sich und ein dicker Schwall schwarzen Blutes quoll hervor. Sie sackte zusammen. Das war ihr Ende.

Roger graute es vor dem allem, was geschehen war, und am meisten graute ihm vor ihm selbst. Er hatte seine geliebte Frau, das vollkommenste Wesen, das jemals auf dieser Erde lebte, beschimpft, gerade jetzt, wo sie totkrank war und seiner so nötig bedurfte. Sie hatte ihm zuliebe versucht, ihm zu folgen. In ihrer letzten Stunde hatte er ihre Liebe verraten, hatte sie zu etwas gezwungen, das sie umgebracht hatte. Was war er nur für ein Unmensch!

Roger rannte weg, nur weg, so rasch er konnte. Er kam zu dem See, wo er vor vielen Jahren diese wunderschöne Frau, die ihm alles gegeben hatte und der er alles genommen hatte, erstmals traf. Ein Nebel lag über dem See. Er wusste jetzt, was er tun würde, er würde hier und jetzt seinem nichtsnutzigen Leben ein Ende bereiten, sein Leben, das er selbst verpfuscht hatte! Er rannte auf den See zu, doch kaum dass er die Wasserfläche berührte -  zuckte erschrocken zurück.

Er hatte sich den Mund verbrannt. Der Tee war noch brühheiß, der Tee in seiner Tasse. Verstört sah er den Lama an. Er musste in diesen wenigen Augenblicken ein ganzes Leben gelebt haben, höchstes Glück und abgrundtiefes Unglück erlebt haben.

"Du wolltest eine Belehrrung“, sagte der Lama. „Nun, die hast du bekommen. Geistgeschaffen sind alle Dinge. Alles Glück, aber auch alles Leiden, dass du dir und deinen Mitmenschen zufügst: es entsteht in deinem Geist. Und auch den Hass, den du auf andere projizierst, auch der entsteht in deinem Geist. Alles was entsteht, entsteht in deinem Geist. Aber alles, was in deinem Geist entsteht, ist nicht Nichts, denn es führt zu Glück, und es führt zu Leiden. Du bist der Schmied deines Glückes, aber du kannst auch der Schmied deines Leidens sein, und des Leidens anderer. Denke darüber nach. Aber mache es um Himmels Willen nicht zu einem Konzept, denn sonst zerstörst du seine Wirkung. Handle, aber handle achtsam! Das ist die Lehre der Buddhas aller Zeiten."


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