Sati–sampajañña

Vortrag von Horst Gunkel bei der buddhistschen Gemeinschaft Gelnhausen am 24. Juni 2021


Mein heutiges Thema ist sati–sampajañña. Ich habe im letzten Monat begonnen über fünf Glieder des upanisa sutta, also das was bei Triratna „Spiralpfad“ heißt, zu sprechen, über fünf Pfadabschnitte, die – wie ich meine – viel zu wenig bekannt sind und viel zu wenig besprochen werden. Letztes mal habe ich den ersten dieser Begriffe erläutert „yoniso manasikara“ (Weises Erwägen), das nächste Mal werde ich über idriya samvara (Fähigkeiten nutzen) sprechen und das übernächste Mal über sila-samvara (Einhalten der Vorsätze) und avipatissara (Gewissensrenheit). Heute ist das Thema also sati-sampajañña, was augenscheinlich zwei Begriffe sind. Ich werde zunächst den Begriff sati näher beleuchten, dann den Begriff sampajañña, anschließend werde ich mich der Frage widmen, warum der Buddha dies gerade in dieser Weise als Doppelausdruck verwendete. Das ist allerdings alles ziemlich herausfordernd. Daher werde ich zum Schluss erläutern, wie ich in meiner Praxis damit umgehe.

Zunächst also der Begriff sati (achtsam). Ich referiere hierzu, was ich in der Enzyklopaedia of Buddhism gefunden habe, die mir dankenswerterweise von Satyadhara zur Verfgung erstellt wurde. Es werden darin mehrere Dimensionen von sati herausgearbeitet, nämlich

  1. Das, was wir meist meinen, wenn wir im buddhistischen Kontext von Achtsamkeit sprechen ist upapaññhitasati = gegenwärtig sein, in diesem Moment, im Hier und Jetzt.

  2. Meist wird auch noch auf den linguistischen Ursprung von sati hingewiesen: sati ist abgeleitet vom Verb sarati (sich erinnern). Hier geht es also um einen Bezug zur Vergangenheit , so sagt der Buddha (M.I.356): „Er ist achtsam, ausgestattet mit der höchsten unterscheidenden Achtsamkeit, so dass er sich an an Dinge erinnern kann, die vor langer Zeit getan wurden oder die früher gesagt wurden.“
    Nimmt man diese beiden Punkte zusammen, so kann man feststellen, dass sati sich keineswegs nur auf den gegenwärtigen Moment bezieht, sondern dass es auch darum geht, diese Erkenntnisse so abzuspeichern, dass zur gegebenen Zeit darauf zurückgegriffen werden kann. Im Englischen gibt es hierfür den Ausdruck to recollect, also: sich wieder ins Bewusstsein rufen, im Deutschen bedeutet das „sich vergegenwärtigen“.

    Wenn man dies beachtet, dann merkt man, dass von den beiden Faktoren achtsamen Betrachtens, von Breite und Fokus, hier besonderen Wert gelegt wird auf die Breite des Gewahrseins, und keineswegs nur auf die Fokussierung, wie häufig unterstellt wird.

  3. Geht es um eine unvoreingenommene Position. So verweist der Buddha (S.V.6) darauf, dass es um die koordinierende Achtsamkeit eines Kutschers geht. Mit anderen Worten: es geht um eine sorgsam ausbalancierte Überwachung einzelner Komponenten. Dies wird am deutlichsten bei den fünf indriyas (Fähigkeiten), wo sati dafür eingesetzt wird, die scheinbar konkurrierenden Faktoren saddha und pañña sowie viriya und samadhi in ausgewogenem Maße zu entwickeln.

  4. Gibt es ein Spannungsverhältnis mit manasikara (Erwägen). Hier hat sati die Funktion von indriya samvara, also die Sinnenpforten zu bewachen. Sati wird dabei mit einem mittelalterlichen Wächter an den Stadttoren verglichen. Um die Schutzfunktion zu unterstreichen, gibt es auch das Beispiel (S.V.170) in dem der Buddha erläutert, wie ein Mann eine randvolle Schüssel mit Öl auf seinem Kopf balanciert während er eine Menschenmenge durchschreitet, die einer tanzenden Sängerin zujubelt. Hinter diesem Mann geht ein Scharfrichter, der bereit ist, ihm den Kopf abzuschlagen, wenn er etwas von dem Öl verschüttet. Hier geht es also um den äußerst disziplinierenden Faktor von sati, darum zu vermeiden, dass sich manasikara (egoistische Inanspruchnahme) einschleicht.

  5. Außerdem ist sati auch aus seiner Position im Edlen Achtfältigen Pfad zu verstehen. Hier solten wir seine mittlere Position zwischen samma vayama (Rechtem Bemühen) und samma samadhi (erhabener Transzendenz) beachten. Die Konzentration bedarf dieser Achtsamkeit, die wiederum des stetigen Bemühens bedarf. Im satipatthana sutta bedeutet es Wachsamkeit im Umgang mit Hindernissen: der Mönch weiß, wann ein Hindernis da ist, er weiß, wie das Hindernis zustande kam und er weiß um die Mittel, dieses Hindernis zu bekämpfen und zu überwinden. Wichtig ist hierbei, dass sati uns zwar mit den nötigen Informationen ausstattet, das Hindernis zu bekämpfen, es aber nicht die Erfahrung des Hindernisses beeinträchtigt. Sati ist also der unvoreingenommene Beobachter, der die Situation betrachtet (d.h. die Funktion des Erinnerns) um die Mittel, diese Situation zu verändern, weiß, selbst aber die Situation nicht verändert, sondern dies dem Meditierenden überlässt. Insofern ist sati Rezeptivität ohne jede Reaktion oder Unterdrückung.

  6. Sati ist auch eines der bojjhangas (Erleuchtungsglieder1), und zwar das erste, es ist mithin die Basis, die Grundlage, die conditio sine qua non, des Erleuchtungsstebens.

  7. Sati und Konzentration. Ohne sati ist samadhi (erhabene Transzendenz) nicht möglich, es ist die Grundlage der jhanas (meditative Vertiefungsfaktoren). Insbesondere im dritten jhana ist sati unverzichtbar, wenn die beiden Faktoren der Objektkonzentration wegfallen.

Soweit also zum Begriff sati, nun zu

sampajañña – Rechte Achtsamkeit (mindfullness), also völlige Bewusstheit, benötigt Achtsamkeit und sampajañña (= klares Verständnis, Erwägen, Umsicht, Introspektion); die übliche Übersetzung ist Wissensklarheit, was bedeutet ein Phänomen in all seine Aspekten zu verstehen, mithin (a) wie es ist, (b) wie es so werden konnte und (c) und wozu dies führt – und diese drei Aspekte in Bezug auf alle Einzelheiten des Phänomens. Es geht also um ein tieferes Erforschen als bei sati.

Das Vipassana-Research-Insitut von Goenka benennt vier Dimensionen von sampajañña, die alle nicht auf den Buddha zurückgehen, sondern auf den Atthakatha (den offiziellen Kommentar de Theravada)

  1. sattnaka-sampajañña = zweckdienliche Wissensklarheit

    hier geht es darum, die Vergänglichkeit zu verstehen, was beinhaltet zu verstehen, welche Praktiken für die eigene Entwicklung zweckdienlich sind.
  2. Sappaya-sampajañña = vorteilhafte Wissensklarheit

    hier geht es vor allem um die Betrachtung der Vergänglichkeit von Körpersensationen
  3. Gocara-Wissensklarheit (go+cara = Weide + Vieh)

    hier geht es darum, dass die Wissensklarheit nicht nur beim spirituellen Leben wichtig ist, sondern auch bei allen weltliche Aktivitäten des Praktizierenden notwendig ist. (Die Herkunft der Bezeichung go+cara = Weide + Vieh finde ich sehr schön; hier wird also der buddhistisch Praktizierende wie das Vieh auf der Weide betrachtet, eine ganz ähnliche Betrachtungsweise wie im Christentum, wo der gute Hirte die Lämmlein auf einer grünen Aue weidet.)
  4. Asammoha-Wissensklarheit (unverblendete Wissensklarheit)
    hierbei sollen von dem Meditierenden das Bewusstsein, die psychischen Faktoren und die körperlichen Funktionen verstanden werden.

Es ist vielleicht ganz gut, dass alles einmal gehört zu haben, aber ich bin mir vollauf bewusst, dass das für euch jetzt nicvht als abrufbares Wissen agbespeichert werden konnte, als etwas, das immer dann, wenn die Begriffe sati und sampajañña auftauchen, in euer Bewusstsein abgerufen wird.


Wir müssen uns immer verdeutlichen, dass diese Analysen der Vielschichtigkeit von Bedeutungen dieser Begriffe nicht vom Buddha selbst sind, sondern dass dies Ergebnisse der Kontemplationen späterer buddhistischer Praktiker sind. Wären alle diese Facetten notwendig, um mit den Begriffen etwas anfangen zu können, dann hätte der Buddha sicher in einer seiner über 4000 Lehrreden diese Analyse selbst vorgenommen. Hat er aber nicht.

Welches Ziel hat der Buddha also verfolgt, wenn er an so entscheidenden Stellen wie hier im upanisa sutta und insbesondere auch im sattipatthana sutta, das eine der wichtigsten, nach Theravada-Meinung sogar die wichtigste aller Lehrreden ist, sati-sampajanna als Doppel-Ausdruck verwendet hat? Meiner Meinung nach ist er auch hier dem Mittleren Weg gefolgt, was bedeutet, er hat nicht nur den vielleicht zentralsten Begriff buddhistischer Praktik verwendet, nämlich sati. Er hat aber auch nicht die Analyse so weit getrieben, wie es die späteren Kommentatoren gemacht haben. Aber er hat sati gewissermaßen aufgewertet, indem er deutlich gemacht hat, dass da noch mehr drin steckt, er hat daher den Doppel-Begriff sati-sampajañña im satipatthana sutta nicht weniger als fünfzehn Mal verwendet.

Und wenn man weiß, wie die Mönche in ihren Reflexionen und Kontemplationen, wie die Mönche in ihren Gesprächen miteinander dies immer wieder diskutierten, dann wird einem klar, dass da zwangsläufig die Frage aufkam: „Warum hat der Buddha nicht einfach achtsam gesagt, sondern achtsam und wissensklar? Was ist der Unterschied zwischen Achtsamkeit und Wissensklarheit?“ In den Gesprächszirkeln und Arbeitsgruppen der Mönche wurde dies besprochen und sicher wurden in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Aber allen war eines gemeinsam, sie alle haben sich mit der Frage beschäftigt: was bedeutet Achtsamkeit genau, was bedeutet Wissensklarheit. Und was immer dabei herausgekommen sein mag, es war in hohem Maße reflektiert. Diese Relexionsprozesse, dieses Bemühen um richtiges Verständnis, diese Versuche, tiefer in die Materie einzubringen hat der Buddha durch die einfache Verwendung des Doppelausdrucks "achtsam und wissensklar" initiiert.

In den folgenden Jahrhunderten hat diese Praxis der Arbeit mit Doppelausdrücken Schule gemacht: in Indien, in der griechisch-buddhistischen Nation Gandhara (heutiges Afghanistan und nördliches Pakistan) und auch im griechischen Mutterland. Dieses Verfahren der Verwndung von Doppelausdrücken wurde in der Rhetorik und Linguistik als Hendiadyoin bekannt (altgr.: ἓν διὰ δυοῖν, deutsch eins durch zwei‘), eine linguistische Stilfigur, die einen komplexen Begriff mittels zweier semantisch ungleichwertiger Ausdrücke beschreibt, die in der Regel durch die Konjunktion „und“ verbunden werden. (Beispiele: Feuer und Flamme, unter Dach und Fach bringen, in Bausch und Bogen ablehnen, Lug und Trug, klipp und klar sagen).

Wie du mit dem Denkanstoß des Buddha umgehst, musst du selbst entscheiden, was sati-sampajañña für deine Praxis bedeutet. Ich für meinen Teil habe mich entschieden, dass es mir für den allgemeinen Gebrauch genügt, sati als Achtsamkeit im Hier und Jetzt zu verstehen, was ein (Wieder-)Erkennen des Phänomens voraussetzt und in soweit eine Konnotation von erinnern hat. Da BuddhistInnen jedoch die Wirklichkeit nicht als Dinge erkennen sollten, sondern als Prozesse, muss bei einer buddhistischen Betrachtungsweise immer auch Wissensklarheit vorhanden sein, also die Reflexion, warum das so ist und welche Folgen das impliziert. Dies gilt natürlich insbesondere für die zu erwartenden Folgen des eigenen Handelns. Und dabei ist die entscheidende Frage: "Wie nachhaltig ist mein Handeln?"

Diese vereinfachrte Betrachtung

genügt mir, den ganzen Rest der vorgetragenen Erläuterungen benötige ich nicht. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich das so, wie ich es zuletzt geschildert habe, dem Buddha, meinem Lehrer, als Ergebnis meiner Überlegungen mitgeteilt hätte, so bin ich sicher, dass dieser nachsichtig gelächelt hätte und dass dieser mein Lehrer, der Buddha, mir dann geantwortet hätte: „Genügend, Schüler Gunkel, setzen.“

Mit einem „genügend“ war ich als Schüler immer ganz zufrieden.

1 Die anderen sind Wirklichkeitsergründung (dhammavicaya), Willenskraft (viriya), Verzückung (pīti), Gestilltheit (passaddhi), Sammlung (samādhi), und Gleichmut (uppakhā).


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