Aus der Vortragsreihe "Der Edle Achtfältige Pfad (2015)"
Horst Gunkel:
Einführung I: Paticca samuppada
zuletzt geändert am 4. Oktober 2015

Wenn man Buddhisten die Frage stellt: Was ist die grundlegendste Lehre des Buddha, so bekommt man unterschiedliche Antworten, beispielsweise

  • Mitgefühl und Weisheit
  • der Dreifache Pfad aus Ethik, Meditation und Weisheit
  • Aufhören Unheilsames zu tun, das Heilsame unternehmen und das Herz läutern
  • die Vier Edlen Wahrheiten
  • die drei laksanas: dukkha, anicca und anatta
  • der Edle Achtfältige Pfad
  • der Weg zu Nirwana
  • Loslassen
und vieles mehr. Alles das sind wichtige Lehrreden, sind Methoden, den Pfad zu beschreiten oder Ziele, die der Buddha lehrte. Aber es ist nicht das Grundlegendste. Die grundlegende, die fundmentale Erkenntnis des Buddha, das, auf dem alles andere aufbaut, ist etwas viel Einfacheres, etwas, das jedem Zuhörer, das jeder Leserin sofort einleuchtet, etwas, das wir alle irgendwie wissen, das aber, wenn wir es zu Ende denken, und richtig anwenden, wirklich revolutionär ist.

Ich möchte dazu eine kleine Episode aus dem Palikanon wiedergeben, die sich bald nach Buddhas Erleuchtung abspielte. Sariputra, der zusammen mit seinem Jugendfreund Moggalana später zu den beiden Hauptjüngern Buddhas wurde, hatte sich mit seinem Freund darauf verständigt, dass sie beide getrennt durch Indien ziehen würden, um einen wahrhaft erleuchteten Meister zu finden, den sie als spirituellen Lehrer annehmen wollten. Ich zitiere die Geschichte jetzt so, wie sie in dem Buch "The Essential Sangharakshita" beschrieben wurde:

Im Laufe dieser Reisen traf Sariputra einen der ersten fünf Schüler des Buddha, einen Mann namens Asvajit, der inzwischen selbst erleuchtet und unterwegs war, den Dharma zu lehren. Da er von diesem wandernden Mönch, der Ruhe und Glück ausstrahlte, sehr beeindruckt war, grüßte er ihn und frug: „Wer ist dein Lehrer?“

Ashvajit antwortete: „Mein Lehrer ist Shakyamuni, der Heilige, der Weise aus dem Stamme Shakya, der Buddha.“

Dann stellte Sariputra die zweite Frage: „Was lehrt er.“

Ashvajit sagte: „Offen gesagt bin ich ein Anfänger. Ich weiß nicht wirklich viel vom Dharma. Aber ich kann dir knapp erläutern, worum es geht: Von alledem, was da in Abhängigkeit von einer Ursache entsteht, hat der Thathagata die Ursache erklärt und auch das Aufhören. Das ist die Lehre des großen Sramana.“

Offensichtlich hat dieser Vers einen erschütternden, gleichzeitig aber auch befreienden Eindruck auf Sariputras Geist hervorgerufen. In ihm stieg transzendentale Einsicht auf, und er wurde auf der Stelle zum Stromeingetretenen. Offensichtlich war in ihm die Grundlage so weit vorhanden, dass diese äußerst komprimierte Version des Dharma genügte, um ihm klarzumachen, dass seine Suche zu Ende war. Er konnte nun seinen Freund Moggalana aufsuchen und ihm mit Überzeugung verkünden, dass er den Buddha gefunden habe.

Man findet diesen Vers Ashvajits überall in der östlichen buddhistischen Welt, er wird zitiert, geehrt und verehrt. In Tibet, China, Japan, Thailand und Sri Lanka ist er in Steindenkmälern und Tontafeln eingraviert, auf Papierbänder gedruckt, die man in Statuen aufbewahrt und niedergeschrieben auf Tafeln aus Gold und Silber. Man könnte sagen, dies sei das Credo des Buddhismus.

Und wenn du wirklich anfängst, über das Prinzip von pratitya-samutpadda nachzudenken – in welcher Formulierung ist dabei völlig egal – wenn du darüber meditierst, wenn du wirklich den Implikationen folgst, dann beginnst du zu verstehen, welchen ungeheuren Auswirkungen es auf die Welt gehabt hat. Was auch immer entsteht, auf welcher Ebene auch immer, es geschieht in Abhängigkeit von Bedingungen, entfallen diese Bedingungen, so verschwindet es wieder. Das ist alles, was es aussagt. Aber wenn es etwas gibt, was Buddhismus ist: dann das!

Sehen wir uns diese Erkenntnis einmal näher an. Das Buddhistische Wörterbuch führt dazu aus:

paticcasamuppada, die 'Bedingte Entstehung', ist die Lehre von der Bedingtheit aller das sog. individuelle Dasein ausmachenden körperlichen und geistigen Phänomene. Sie bildet ... die unumgängliche Voraussetzung und Vorbedingung zum eigentlichen Verständnis und zur Verwirklichung der ganzen Buddhalehre. Sie zeigt die Bedingtheit und abhängige Natur des mit den konventionellen Namen Ich, Individuum, Mensch, Tier usw. bezeichneten ununterbrochenen Stromes der mannigfaltigen körperlichen und geistigen Daseinsphänomene.

Ich will diese Definition jetzt nicht weiter vertiefend erläutern, sondern sie etwas einfacher ausdrücken:

  • In Abhängigkeit von Bedingungen entstehen Wirkungen.
  • Entfallen diese Bedigungen, so entfällt auch die Wirkung.
Das ist nun keine besonders originelle Erkenntnis. Das hat mir schon mein Großvater vermittelt, kaum dass ich laufen konnte. Er pflegte zu sagen: "Von nix kommt nix." Das klingt zwar nicht nach tiefschürfender Philosophie, kommt aber auf das gleiche heraus, wie die Erkenntnis des Buddha, die den Sariputra überzeugte, dieser müsse ein wahrhaft erleuchteter Meister sein.

Die Genialität des Buddha zeigt sich gerade darin, dass er keine Theorien vermittelte, deren komplexe Denkmuster sich dem normalen Menschen kaum erschließt, sondern dass er auf fundamentalsten Erkenntnissen aufbauend, etwas lehrte, was jede und jeder unmittelbar verstehen und ausprobieren konnte. Durch Reflexion und einfaches Experimentieren, also probeweises Ausprobieren, erschließt sich der gesamte spirituelle Weg bis hin zur vollendeten Weisheit, bis zu dem, was im Buddhimus Bodhi, Erwachen, heißt.

Und wenn ich als kleiner Junge wieder einmal ob der schreienden Ungerechtigkeit der Welt verzweifelt war, genügte eine einfache Betrachtung von Ursachen und Wikungen: von nix kommt nix.

Aber nicht nur mein Großvater, auch meine Großmutter legte den Grundstein dafür, dass ich - wenn auch mein vierzig Jahren Verzögerung - zum Buddhismus kam.

Sie pflegte mich zu ermahnen: "Junge, nimm dich in Acht!" Das klang bei ihr in etwa so wie "Nimm dich in Nacht!" und obwohl ich lange darum rätselte, was denn die Nacht damit zu tun habe, erschloss sich mir der Sinn relativ schnell.

Es war eine Ermahnung zu dem, was wir im Buddhismus Achtsamkeit nennen. Achtsamkeit bedeutet unter anderem, beim Handeln die Folgen meines Tuns zu bedenken. Oder noch besser VOR dem Handeln die Folgen zu bedenken, und dann vielleicht nicht oder anders zu Handeln. Denn Handlungen haben Folgen, oder anders ausgedrückt: was geschieht hat Ursachen, und oft liegt ein Teil der Ursachen in mir begründet: Von nix kommt nix! und daher: "Junge, nimm dich in Acht."

Verzichte niemals auf die Achtsamkeit, die Folgen deines Tuns abzuschätzen.

Weg von meinen Großeltern und hin zu Menschen, die wissen, dass sie Buddhisten sind. Ein guter Freund von mir, Dhammaloka, der nächsten Monat hier zu uns nach Gelnhausen kommen wird und einen Workshop über paticca samuppada abhalten wird, hat über dieses Thema jahrzehntelang reflekiert und er hat darüber ein ganz ausgezeichnetes Buch geschrieben, das ich allen wirklich fortgeschrittenen deutschsprachigen buddhistischen Praktizierenden nur empfehlen kann. Es heißt "Säe eine Absicht, ernte ein Leben", der Untertitel dieses Buches ist "Karma und bedingtes Entstehen im Buddhismus". Das Buch ist sehr tiefgründig und eine wirkliche Schatzkiste, ich würde es allerdings Anfängern definitiv nicht empfehlen. Aber wenn du willst, teste einmal Dhammalokas Workshop. Ich jedenfalls freue mich darauf.

Mein spiritueller Lehrer ist Sangharakshita, der Gründer der Buddhistische Gemeinschaft Triratna, der ich angehöre. Und dessen wohl wichtigster Lehrer war Dhardo Rinpoche, ein tibetischer Mönch, der als Wiedergeburt eines berühmten Abtes galt. Dhardo Rinpoche musste in den 50er Jahren als Folge der chinesischen Besetzung Tibets nach Indien fliehen, wie viele andere Tibeter auch. Dort erkannte er, dass viele der tibetischen Flüchtlingskinder Gefahr liefen, von der Konsumgesellschaft geblendet zu werden und ihre buddhistischen Wurzeln zu vergessen. Daher beschloss er, eine Schule für tibetische Flüchtlingskinder zu bauen. Bei der Einweihung dieser Schule fragte ein indischer Rundfunkreporter Rinpoche, was denn das besondere an dieser Schule sei.

Dhardo Rinpoche antwortete: "Wenn die Schüler dieser Schule in den zehn Jahren, die sie hier verbringen, eine zentrale Tatsache verstanden haben, dann hat die Schule ihr Ziel erreicht."

Natürlich wollte der Rundfunkreporter wissen, was das denn für eine Tatsache sei, für die man zehn Jahre brauche, um sie zu verstehen. Vermutlich dachte er an etwas sehr Geheimnisvolles, vielleicht die Realtät von Karma und Wiedergeburt, doch zu seinem Erstaunen antwortete Dhardo Rinpoche: "Acts have consequences." Handlungen haben Folgen.

Das wissen wir eigentlich alle. Das ist uns nicht wirklich Neues. Kognitiv, mit unserem Verstand, wissen wir das alle. Aber ganz oft handeln wir so, als wüssten wir es nicht.

Gehört haben wir den Satz alle schon 1000 Mal: von nix kommt nix, alles entsteht in Abhängigkeit von Bedingungen. Entfallen die Bedingungen, so entfällt die Wirkung.

Aber diesen Satz zu hören und zu verstehen ist nur der erste Schritt. Wir müssen auch wirklich darüber Reflektieren. Und das hat der Buddha gemacht. Er hat uns auch die Ergebnisse dieser Reflexionen mitgeteilt. Und er hat uns mitgeteilt, dass diese sich experimentell überprüfen lassen. Er hat uns eingeladen ebenso darüber zu Reflektieren, die Wirkungen heilsamen Handelns experimentell zu überprüfen und darüber zu meditieren.

Dies hat er unter anderem mit den Vier Edlen Wahrheiten gemacht, über die ich nächste Woche sprechen werde, und mit dem Edlen Achtfältigen Pfad, über den ich an acht weiteren Abenden sprechen werde. Wenn ich spreche, ist das für euch Hören. Es soll aber vielleicht nicht nur beim Hören bleiben. Ich möchte euch alle dazu einladen, darüber zu reflektieren, damit zu experimentieren und eines Tages auch das Gehörte, das Reflektierte und das experimentell Überprüfte in der Meditation so zu festigen, dass euch die Anwendung des Erfahrenen transformiert - zunächst zu einem gesunden fröhlichen Menschen und - wenn ihr wollt und konsequent weitermacht - zu einem oder einer wirklich weisen Person. Nach buddhistischer Überzeugung kann man auf diese Art sogar zur Vollendeten Person werden, was wir eine oder einen Buddha nennen.


© Copyright 2015 by Horst Gunkel, Gelnhausen
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