Jataka-Geschichte 547 - Vessantara-Jataka:

Prinz Vessantara, der Gütige

Eine Jataka-Geschichte, 2022 nacherzählt von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt


Vor vielen Äonen lebte ein Königspaar im Lande Sivirattha, in der Hauptstadt Jatuttara. Der König dieses Landes war Sanjaya, der eine junge Prinzessin gefreit hatte. Diese Prinzessin kannte die Lehren der Buddhas und so wünschte sie sich, die Mutter eines Bodhisattva zu werden, eines Knaben, der dereinst den königlichen Würden entsagt, in die Hauslosigkeit zieht, die Wahrheit sucht und in einem späteren Leben zu einem Buddha wird. Wie nicht anders zu erwarten, wurde sie bald nach ihrer Vermählung schwanger. Und da Schwangere mitunter merkwürdige Gelüste haben, wunderte sich der König nicht, als seine hochschwangere Frau wünschte, die Hauptstadt zu besichtigen. „Wenn du dir das zutraust, so können wir gerne durch Jatuttara flanieren, was hältst du davon wenn wir ins Kaufmannsviertel gehen? Du könntest dort einige Sachen für dich und unser Kind kaufen.“

Die Hochschwangere war darüber erfreut und schon bald durchstöberte sie die Textilläden der Stadt. Plötzlich jedoch setzten die Wehen ein und sie gebar ihr erstes Kind in einem Textilgeschäft. Die Geburt verlief ohne jede Komplikation und der junge Vater verkündete stolz: „Mein Sohn soll Vessantara heißen“. Der Name bedeutet „der im Kaufmannsviertel Geborene“, was in der Tat ein höchst ungewöhnlicher Name war.

Die Jahre vergingen und Prinz Vessantara wuchs zu einem jungen Mann heran, der eine für Königskinder untypische Eigenschaft hatte: er war bereit, wann immer er Bedürftige sah, ihnen großzügig von seinem Eigentum abzugeben. Als die Zeit dafür gekommen war suchte der König für seinen Sohn eine passende Prinzessin, und so wurde Vessantara mit Prinzessin Maddi verheiratet. Die Ehe ließ sich gut an und bald gebar Maddi ihrem Mann zwei Kinder; Prinzessin Kahnajina und Prinz Jali. Da König Sanjaya inzwischen nicht mehr der Jüngste war, rief er seinen Sohn zu sich: "Vessantara, ich sehe, du hasst eine liebe Frau und zwei vielversprechende Kinder, du bist gütig und wirst ein weiser und mitfühlender König werden. Ich aber bin alt und die Staatsgeschäfte strengen mich mehr und mehr an. Daher, mein Sohn, werde ich dir die Königswürde übertragen."

Selbstverständlich war Vessantara höchst erfreut über diese Wendung der Dinge. Ein Wahrsager wurde gerufen, deutete den geeignetsten Tag für die Krönung aus und dieser Tag wurde alsdann zum Feiertag erklärt. Es wurde ein großes Fest in Jatuttara angesetzt. Alle Leute waren auf den Beinen, nicht nur aus der Hauptstadt, sondern auch aus den umliegenden Dörfern. Und als Höhepunkt dieses Fest, wurde die feierliche Krönung vollzogen. Das Volk jubelte seinem neuen König zu, denn verständlicherweise waren die Leute froh, einen solch gütigen und wohltätigen Mann zum König zu bekommen.

Und tatsächlich war Vessantara der großzügigste König, den es jemals in Sivirattha gab. Jeder Mann und jede Frau im Lande war stolz, einen so grundgütigen König zu haben, und selbst die Kinder freuten sich, wenn sie des Königs ansichtig wurden, denn er schenkte ihnen nicht nur kleine Spielwaren, sondern lobte sie auch für ihre guten Taten. Es hätte alles so weiter gehen können, wenn es nicht zu einem verstörenden Zwischenfall gekommen wäre, und zwar mit dem Botschafter von Kalinga, einem anderen Land. Der Botschafter berichtete König Vessantara, dass sein Land von Dürre geplagt sei, dass es schon zwei Jahre praktisch keine Ernte gegeben hätte, und die Vorräte aufgebraucht seien. Wenn nicht in den nächsten beiden Wochen Regen einsetzte, sei mit einer schlimmen Hungersnot zu rechnen, der sicher Hunderte, wenn nicht Tausende der Bewohner Kalnigas zum Opfer fallen würden.

„Das ist ja schrecklich, Botschafter“, sagte König Vessantara, „euch muss unbedingt geholfen werden. Ich habe da auch schon eine Idee. Es gibt in unserem Land einen weißen Elefanten, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Er wird von den Leuten verehrt, weil immer, wenn er trompetet, sich ein heftiges Gewitter zusammenbraut und dem Land den nützlichen Regen spendet. Es ist ganz klar: ihr habt diesen Elefanten nötiger als wir. Ich schenke eurem Land diesen Elefanten, möge er euch den segnenden Regen bringen.“

Der Botschafter war hocherfreut und er zog mit dem Elefanten davon. Als die Bewohner von Sivirattha den Botschafter mit dem Elefanten sahen, und von diesem hörten, wie überaus großzügig König Vessantara gewesen sei, waren sie entsetzt. Zwar waren sie bis dahin immer begeistert von der Großzügigkeit ihres Königs, aber doch weil er ihnen etwas schenkte. Und nun verschenkte er den magischen Elefanten an die anderen! Es sprach sich herum wie ein Lauffeuer und eine wütende Volksmenge machte sich auf den Weg zum Palast.

Vessantara stellte sich der Menge: „Ihr habt mich gelobt, weil ich nicht an meinen eigenen Vorteil dachte, sondern immer denen abgab, die weniger haben und die es nötig haben. Genau so habe ich gehandelt.“

Doch das Volk wollte davon nichts wissen. „Als König muss man für sein Land eintreten, nicht für die anderen: Sivirattha zuerst! - muss der Leitspruch des Königs sein.“ Vessantara schüttelte traurig den Kopf, drehte sich um und ging in den Palast, Tränen liefen über seine Wangen. Im Hintergrund hörte er noch, wie das Volk nach Sanjaya, seinem Vater und Exkönig rief. Auf dem Weg in dem Palast begegnete Vessantara seinem Vater, der hinausging. Die beiden Männer sahen sich im Vorübergehen schweigend an. Am Abend bat Sanjaya seinen Sohn zu einem Gespräch, über dessen Verlauf nichts bekannt ist. Man kann aber davon ausgehen, dass Sanjaya nicht amüsiert über das Verhalten seines Sohnes war und ihm dies auch mitteilte. Und was machte Vessantara? Er bot seinem Vater an, wieder König zu werden, offensichtlich wollte die Bevölkerung das. Und so geschah es.

Am nächsten Tag verließen Vessantara und Maddi mit ihrem beiden Kindern in einer vierspännigen Kutsche die Hauptstadt, sie hatten nur noch das, was in der Kutsche war. Unterwegs kamen sie an einem Dorf vorbei, wo Vessantara seinen Augen nicht zu trauen glaubte: es sah, wie die Felder gepflügt wurden, aber den Pflug zogen nicht etwa Pferde oder Ochsen, sondern Menschen. „Was ist hier los?“ fragte er den Aufseher.

Im letzten Jahr,“ so dieser, „hat die Maul- und Klauenseuche unseren gesamten Viehbestand vernichtet, alle Rinder und Pferde, sogar die Esel. Also müssen jetzt Sklaven und Frauen die Pflüge ziehen.“ Vessantara ging zum Landbesitzer und sagte: „Wenn du versprichst, dass nie wieder Frauen und Sklaven die Pflüge ziehen müssen, schenke ich dir meine Pferde.“ „Abgemacht“, sagte dieser. Dann ging Vessantara zu seiner Kutsche ohne Pferde zurück.

Dies vernahm man auch in der Götterwelt und vier Gottheiten erschienen als Hirsche und zogen die Kutsche. Unterwegs trafen sie einen alten Kaufmann, der weinend am Wegrand saß, der Grund war nur allzu offensichtlich. Sein alter Wagen lag total in Trümmern. „Wenn ich meine Waren nicht in die Stadt bringen und verkaufen kann, werden sie verderben, dann kann ich mir nie wieder einen Wagen leisten und würde womöglich verhungern müssen.“ Vessantara zögerte keine Sekunde, er schenkte dem Kaufmann seine Kutsche.

Zu Fuß erreichten Vessantara, Maddi und die Kinder das benachbarte Königreich Ceti. Der König von Ceti eilte Vessantara entgegen. „Hochverehrter Vessantara, ich habe von eurem großzügigen Handeln gehört, man erzählt überall von euch, ihr seid so eine Art Volksheld. Wollt ihr nicht die Regentschaft in Ceti übernehmen.“ Aber Vessantara winkte ab, er wusste wie schnell sich das Volk von einem abwendete, der nicht das Wohl des eigenen Volkes über das der benachbarten Völker stellte. „Dann tut mir wenigstens den Gefallen und wohnt mit eurer Familie in meinem Palast, der ist groß genug für eure und meine Familie, euch wird es an nichts mangeln.“ Vessantara aber antwortete: „Das ist großzügig von euch und ich weiß es durchaus zu schätzen. Aber ich möchte lieber in die Waldeinsamkeit ziehen und meditieren.“

So geschah es; der König von Ceti aber befahl seinem königlichen Jäger den Wald zu bewachen, damit niemand die heilige Familie störe. Dort lebten sie eine Zeit lang in Frieden, bis...

In Ceti lebte auch ein gieriger alter Brahmane namens Jujaka mit seiner sehr viel jüngeren Frau, einem ausgesprochen schönen und fleißigen Mädchen. Jujaka hatte gehört dass Vessantara mit seiner Familie im Wamka-Wald lebte. Er machte sich mit finsteren Gedanken dorthin auf, denn er hatte gehört, dass Vessantara einem einfach keinen Wunsch abschlagen konnte - das wollte er ausnutzen. Den Jäger, der den Wald bewachte, legte er mit einem Trick herein und so verschaffte er sich Zutritt zum Wamka-Wald.

Er beobachtete Vessantara und seine Frau Maddi einige Zeit und passte so den Zeitpunkt ab, da Maddi gerade unterwegs war, um Nahrung zu suchen. Nun sprach der böse Jujaka bei Vessantara vor und forderte die Herausgabe seiner Kinder. Traurig stimmte Vessantara zu, er sagte sich, dass dies bestimmte zu irgendeinem Zwecke gut sein müsse, den er nur nicht verstand, denn er vertraute dem Wirken des Karmagesetzes.

Vessantaras Herz war voller Trauer, als er sah wie der Brahmane seine Kinder fesselte und sie mitnahm, doch er überwand seine Wut und setzte sich weinend nieder. Auch die Rückkehr seiner Frau Maddi verzögerte sich, denn sie musste sich vor einem Tiger verstecken und kam erst am nächsten Tag erschöpft zurück. Vessantara erzählte ihr, was vorgefallen war, nämlich dass er die Kinder einem fremden Brahmanen gegeben habe. Großzügigkeit galt damals als eine der höchsten Tugenden, nur so ist zu verstehen, dass Maddi ihren Mann selig pries ob dieser Selbstlosigkeit und Selbstüberwindung. Diese Lobpreisung hörte man sogar in der Götterwelt und der Gott Indra nahm sich vor, Vessantara auf die Probe zu stellen. So erschien er verkleidet im Wald und bat Vessantara darum, ihm seine Frau zu überlassen. Traurig stimmte Vessantara zu.

Da er auch diese Prüfung bestanden hatte, gab Indra ihm seine Frau zurück. Auch weitere Götter griffen nun in das Geschehen ein. Sie veranlassten der Brahmanen Jujaka nach Sivirattha zu ziehen, also in das Königreich, das jetzt wieder von Vessantaras Vater Sanjaya regiert wurde. Durch das Einwirken der Götter begegneten sich König Sanjaya und Jujaka, der in Begleitung der Kinder war. Der König erkannte seine Enkelkinder und forderte die Herausgabe, aber Jujaka antwortete: „Nein, König, ich habe diese beiden rechtmäßig erworben, sie sind jetzt meine Sklaven. Du kannst sie allerdings kaufen. Dazu musst du das Gewicht der Kinder in Silber aufwiegen.“

Also bezahlte Sanjaya diesen horrenden Preis. Jujaka war am Ziel seiner Wünsche, er ging in das beste Restaurant der Stadt und ließ sich die erlesensten Speisen auftischen - und überfraß sich. In der Nacht bekam er furchtbare Bauchschmerzen und Fieber und noch bevor die Sonne wieder aufging, war der Brahmane tot.

Jetzt, wo die Kinder wieder frei waren, schickte König Sanjaya einen Boten nach Ceti und bat Vessantara und Maddi wieder zurückzukehren. Sie zogen in einem vom König organisierten Triumphzug wieder in Sivirattha ein. Am gleichen Tag gab das Königreich Kalinga dankbar den weisen Elefanten zurück, der ihr Land vor einer Hungersnot bewahrt hatte. Galt dem Volk Vessantara vor einem Jahr noch als Verräter, wurde er jetzt gefeiert. An diesem Tag wurde Vessantara erneut zum König gekrönt und der Himmel schickte roten Regen, ein sichtbares Zeichen, dass es unter Vessantaras Herrschaft an nichts mangeln würde.


Zu Meditation am Obermarkt

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