Jivita - Lebenskraft
Vortrag von Horst Gunkel bei der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen am 30.9.2021
Sangharakshita
hat den Dharma verwestlicht, er hat ihn für das westliches Denken
kompatibel gemacht. Er hat dafür ein wichtiges, aber relativ
unbekanntes Sutra, das upanisa sutta, zur Grundlage
genommen.
Im upanisa sutta zeigt der Buudha auf, wie der verblendete Mensch im Rad des Lebens, im Hamsterrad des Menschseins, in der zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens gefangen ist. Er zeigt aber auch auf, wie man sich aus diesem Rad befreien kann, indem man den Pfad der upanisas, der unterstützenden Bedingungen, beschreitet. Sangharakshita verwendete dafür den Begriff der Höheren Evolution, wofür er aus buddhistischen Kreisen scharf kritisiert wurde. Diese Kritik verfehlt ihr Ziel, da sie verkennt, dass Sangharakshita lediglich eine neue Vokabel für einen vom Buddha aufgezeigten Weg verwendet.
Der Begriff Evolution stammt aus dem Lateinischen, er kommt vom Verb volvere (wälzen), versehen mit dem Präfix „e“ (heraus), also sich aus etwas heraus-entwickeln, sich von etwas emanzipieren, und dann eben im übertragenen Sinne: nach oben entwickeln. Es stellt sich die Frage, ob dies rein westliches Denken ist oder aber eine Sichtweise, die im indischen Denken oder auch im europäischen Denken der Epoche vor der Aufklärung bereits verwurzelt ist.
In Pali gibt es das Wort jivita, das gewöhnlich mit Lebenskraft übersetzt wird.
Diese Lebenskraft ist von doppelter Natur, sie ist einmal die kreisförmige, reproduzierende, sich wiederholende und damit bewahrende Kraft, die sich im Tagesablauf, in der Abfolge der Jahreszeiten sowie biologisch in der sexuellen oder asexuellen Reproduktion ausdrückt, also in den beiden Arten, wie in der Natur Lebensformen weitergegeben werden. Von den Lebensformen wissen wir allerdings, dass sie sich im Laufe der Zeit entwickeln, evolvieren. Und so steckt in dieser Kraft auch etwas Evolutionäres, etwas aufwärts Gerichtetes, etwas das zur Vervollkommnung strebt. In der Lebenskraft ist also neben den bewahrenden, dem statischen Aspekt auch ein dynamischer, ein progressiver vorhanden.
Dieser dynamische Aspekt findet sich auch bei den Mystikern der verschiedenen Religionen. Diese streben die unio mystica (Meister Eckhart) an, die Vereinigung mit dem Höheren, dem Absoluten, dem Göttlichen, dem Transzendenten. Dieses Streben erschien zum Beispiel Hildegard von Bingen derart mächtig, dass ihr der Begriff „Leben“ als zu schwach erschien. Sie, die sich mit Botanik, insbesondere mit Heilpflanzen, befasste, prägte daher den Begriff „viriditas“, der von „viridis“ (lat.: grün) abgeleitet ist und somit „Grünsein“ oder „Grünkraft“ heißt.
So schreibt Bardo Weiss in „Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild“: „Ausgehend von der Tatsache, daß im Frühling alles ergrünt und zu neuem Leben erwacht, betont dieser Begriff das Kraftvolle des Lebens und müsste am besten mit ‚Lebenskraft‘ übersetzt werden.“ In dieser Interpretationvon Bardo Weiss geht es in erster Linie um die zyklische Lebenskraft. Bei Hildegard von Bingen ist diese Grünkraft oder Lebenskraft jedoch noch mehr als das, sie ist eine göttliche Kraft, und in der unio mystica können wir uns mit dieser verbinden, ja vereinen. Die dahin führende tiefe Meditation wird übrigens vom zeitgenössischen islamischen Sufi-Mystiker Pir Vilayat Inayat Khan, der den Begriff unio mystica meidet, mit dem Palibegriff samadhi genannt, den er als „erhabene Transzendenz“ übersetzt. Er spricht auch davon, es sei „das Ziel der Meditation, die Rückverbindung von unserem persönlichen Selbst zu einer transpersonalen Dimension unseres Wesens herzustellen.“ Sangharakshita bezeichnet dies als Vereinigung unserees (kleinen) Selbst mit dem größeren Selbst. (Parabel vom verlorenen Sohn)
Im
Hinduismus wird diese jivita, diese Lebenskraft, mit
dem Begriff prana (Lebenshauch), einer von der Erde
durch den Menschen nach oben strebenden Kraft gleich gesetzt. Der
Lebenshauch, eine göttliche Kraft, wird in den abrahamitischen
Relgionen mit „Odem“ bezeichnet, göttlichem Atem.
Und auch in Nyanatilokas „Buddhistischen Wörterbuch“ finden wir unter indriya (Kräfte) u. a. die drei Kräfte des Werdens (bhava) und dies ist neben itthi (weiblich) und purisa (männlich), die für die sexuelle Reproduktion stehen schließlich noch jivita, die Lebenskraft mit ihren beiden unterschiedlichen Ausprägungen, der zyklisch-reproduktiven und der dynamisch-evolutionären.
In welchem Verhältnis steht die Lebenskraft zu Körper und Geist?
Die Lebenskraft ist, wie wir gesehen haben, von zweierlei Natur, der zyklischen und der evolutionären. Betrachten wir uns die vom Buddha empfohlene Analyse unserer psychosozialen Einheit als einer Einheit von den fünf khandhas (Anhäufungen), so wird jivita hier nicht als eine eigene Gruppe erwähnt. Wir haben in diesem Modell zwei Gruppen, die wir von der westlichen Philosophie und den Religionen her kennen, nämlich Körper und Geist. Als dritte Gruppe erscheint sanna (Wahrnehmung). Da wir einen Körper haben, kommen wir über unsere Sinnesorgane zu Kontakten, die unser Bewusstsein mit gespeicherten Mustern abgleicht und erkennt, das nennt man Wahrnehmung, hierdurch wird aus Perzeption Apperzeption, in diesem Wahrnehmungsprozess treten vedana (Empfindungen) auf, die durch unsere Verhaltensmuster, unsere Gewohnheiten, unsere Erfahrungen geprägt sind.
Als letztes - und in diesem Zusammenhang interessantestes - khandha haben wir sankhara, vom Buddhistischen Wörterbuch bezeichnet als „das in karmischer Willenstätigkeit bestehende Gestalten“, eine etwas sperrige Übersetzung. Hier sind auf jeden Fall Gestaltungskräfte am Werke, lebendige Kräfte, die etwas gestalten wollen, mithin Lebenskraft. Gehen wir vom spirituell nicht gefestigten, verblendetem, an ein „Ich“ glaubenden Wesen aus, dann wird dieses den Willen haben, das zu tun, was ihm selbst nutzt. Hier kommt die zyklische Variante der Lebenskraft zum Tragen, diese ist egogesteuert und steht somit mit anderen Egos im Konflikt.
Ein spirituell weiter entwickelter Mensch, wird immer weniger von den egoistischen Impulsen getrieben und immer mehr zum Wohl aller Wesen arbeiten. Hier kommen die Aspekte der Lebenskraft zum Tragen, die evolutionär, die aufwärtsgerichtet sind.
Nach dem Theravada-Modell erlöschen im Arahat (Heiligen) alle Gestaltungskräfte, also auch die Lebenskraft. Es kommt folglich nicht mehr zum Wiedererscheinen. Nach dem Mahayana-Modell hingegen besteht der Wunsch, zum Wohl aller Wesen zu wirken, fort. Die Lebenskraft ist nicht erloschen, sondern wird gezielt zum Wohl aller Wesen eingesetzt. Der Bodhisattva erlischt also nicht, sondern wirkt weiter. Dies kann als sog. „lebender Bodhisattva“ sei, wie es vor allem im Vajrayana beschrieben wird, oder als transzendenter Bodhisattva, wie wir ihn u. a. in Manjughosa oder der Grünen Tara verehren.
Festzuhalten bleibt: es gibt etwas, das man mit Lebenskraft übersetzen kann. Diese wirkt auch im Menschen. Sie hat einen zyklischen und einen nach oben strebenden Aspekt. Der Egoist beschäftigt sich mit dem zyklischen Aspekt, sein Denken kreist um das Ich oder Mein, um die eigene Person oder den eigenen Besitz.
Eine Variante davon ist das erweiterte Ich, von Sangharakshita als Gruppe bezeichnet. Hier kann statt dem engen Ich das erweitere Ich stehen: meine Familie, mein Verein, meine Nation. Eine Variante davon ist das große Ich. Hierbei wird das ideale Selbst auf Gott projiziert, das Ich dient dann dem großen Ich (einem personifizierten Gott). Dies finden wir beispielsweise bei Gotteskriegern wie den Taliban oder den IS-Kämpfern und bei Kreuzzüglern.
Buddhistisch Praktizierende emanzipieren sich allmählich von dem egozentrierten Verhalten, der evolutionäre Aspekt der Lebenskraft nimmt zu.
Die Naturwissenschaften kennen einen engeren Begriff von Lebenskraft, die Vitalität (von lateinisch vitalis ‚zum Leben gehörig, Leben enthaltend, Leben erhaltend, Lebenskraft habend oder gebend). Die Vitalität eines Organismus wird dadurch bestimmt, wie gut dieser es schafft, sich an seine Umgebung anzupassen bzw. seine Umgebung zu nutzen. Man versteht dabei unter Vitalität die Fähigkeit, unter den vorgefundenen Umweltbedingungen zu gedeihen und zu überleben. In der Ökologie ist mit Vitalität auch die Konkurrenzfähigkeit von Arten gemeint. (nach Wikipedia).
Aber auch hierin sehen wir die beiden Aspekte, den zyklischen (arterhaltend) und den evolutionären (die Art spezifizierend um in der Artenkonkurrenz zu überleben). Im Gegensatz zu dieser naturwissenschaftlichen Betrachtungdazu haben jivita oder viriditas, also Lebenskraft oder Grünkraft aber immer auch eine spirituelle Komponenete.
Zum Abschluss möchte ich noch darauf verweisen, dass sich praktisch alle sprirtuellen Kulturen mit der Lebenskraft beschäftigt haben, so beispielsweise
Chi in China
Ki in Japan
Lung in Tibet
Mana in Polynesien (Ein Mensch, der sich durch große Fähigkeiten, Kraft und Selbstvertrauen auszeichnet, besitzt ein bedeutendes Mana und damit – gemäß der polynesischen Überzeugung – zwangsläufig auch große spirituelle Energie)
vis vitalis in der antiken Medizin (wo ein besonderen „Lebensstoff“ als eigenständiges Prinzip, angenommen wird). Damit wird ein Wesensunterschied zwischen Organischem und Anorganischem behauptet.
Kundalini-Energie im Indien
πνεῦμα
(pneúma) im antiken
Girechenland (Lebenhauch,
Seele, Geist, als Ἅγιον
Πνεῦμα
auch Heiliger Geist)