Ethische Rede
Vortrag von Dr. Jörg Kapfer am 3. Juni 2021
Die
buddhistischen Texte beschreiben Vollkommene Rede gewöhnlich
als jene Rede, die wahrhaftig, freundlich und hilfreich ist, sowie
Eintracht, Harmonie und Einheit fördert.
Entsprechend wird falsche oder unvollkommene Rede mit den
gegenteiligen Begriffen als unwahrhaftig, grob und schädlich
beschrieben, sowie als Rede, die Zwietracht und Missklang sät.
Ich habe mich hierbei an Sangharakshitas Ausführungen orientiert, zu finden unter: http://www.triratna-buddhismus.de/fileadmin/user_upload/Texte/Sangharakshita_Werkauswahl_5.pdf
1.
Die Stufe der Wahrhaftigkeit
Sangharakshita zitiert Samuel Johnsons berühmte Bemerkung über sachliche Genauigkeit:
"Wenn Kinder behaupten, etwas sei vor diesem Fenster passiert, obwohl es tatsächlich vor jenem passiert ist, dann müsse man unverzüglich mit ihnen reden, denn man könne nie wissen, wohin auch kleinste Abweichungen von der Wahrheit einmal führen."
Hiernach ist Faktentreue wichtig. Sie ist die Grundlage oder das Fundament Vollkommener Rede.
Wenn wir das einsehen, sollten wir uns jene Tugend angewöhnen, die Johnson „Genauigkeit der Darstellung“ nannte.
Sie ist eine Art Übungsfeld für die höheren und subtileren Stufen der Wahrhaftigkeit. Doch schon auf dieser Ebene sind wir in der Regel unsicher und nachlässig. Nur wenige bemühen sich wirklich um eine genaue Darstellung. Wir mögen es eben, die Dinge ein klein wenig zu verändern. Wir bauschen sie gerne etwas auf, übertreiben, untertreiben oder schmücken aus.
Wahrhaftigkeit hat überdies einen psychologischen und spirituellen Aspekt.
Außer sachlicher Genauigkeit schließt wahrhaftige Rede auch Ehrlichkeit und Offenheit ein.
Man sagt nicht die Wahrheit, solange man nicht die ganze Wahrheit sagt und damit das ausdrückt, was man tatsächlich im Herzen und im Sinne hat, solange man also nicht sagt, was man wirklich denkt und fühlt.
Doch damit stellt sich eine andere Frage: Wissen wir denn überhaupt so genau, was wir denken? Wissen wir wirklich, was wir fühlen?
Die meisten von uns leben in einem Zustand chronischer geistiger Wirrnis und Orientierungslosigkeit, in geistigem Chaos und Durcheinander. Gelegentlich können wir vielleicht wiederholen, was wir gehört oder gelesen haben. Wir können es wiederkäuen.
Doch das alles machen wir, ohne wirklich zu wissen, was wir sagen.
Wie also können wir überhaupt die Wahrheit sprechen? Wenn wir nicht wirklich wissen, was wir denken, wie können wir da wahrhaftig reden?
Wenn wir die Wahrheit im vollen Wortsinne sprechen wollen oder wenigstens in umfassenderem Maß als gewöhnlich, dann müssen wir unsere Vorstellungen klären.
Wir müssen irgendwie Ordnung in unser gedankliches Durcheinander bringen. Wir müssen ganz klar und sicher wissen, was wir denken und was wir nicht denken, was wir fühlen und was wir nicht fühlen.
Und wir müssen auf intensive Weise gewahr sein. Wir müssen wissen, was in uns vor sich geht: Welche Motive und Antriebe gibt es in uns und welche Ideale?
Das alles bedeutet, dass wir uns selbst gegenüber völlig ehrlich sein müssen. Wir müssen uns selbst kennen. Wenn wir unsere dunklen und hellen Seiten nicht kennen, wenn wir die Tiefen unseres eigenen Daseins nicht durchdringen können und nicht wirklich durchsichtig für uns selbst werden, wenn in uns weder Klarheit noch Licht sind, dann können wir auch nicht die Wahrheit sprechen.
Die Wahrheit zu sprechen bedeutet eigentlich, ganz man selbst zu sein. Hiermit ist gemeint, in unserer Rede auszudrücken, was wir wirklich und wahrhaftig sind und auch wissen, dass wir es sind.
Die Wahrheit in diesem subtileren, umfassenderen, tieferen und spirituelleren Sinn spricht man allerdings nicht im luftleeren Raum. Man steigt nicht auf den Fernsehturm und verkündet den Sternen die Wahrheit. Sie ist immer an jemanden gerichtet: an eine andere Person, einen anderen Menschen. Das führt uns zur zweiten Stufe Vollkommener Rede oder zur zweiten Stufe von Kommunikation.
2. Die Stufe der Freundlichkeit
Vollkommene Rede ist nicht nur im vollen Wortsinn wahrhaftig, sie ist auch gütig und liebevoll: Sie ist Wahrheit, die in oder mit Liebe gesprochen wird. …
Gütig oder liebevoll sprechen bedeutet hier, die ganze Wahrheit im vollen Gewahrsein der Person, zu der man spricht, zu sagen.
In der Regel erleben wir andere Menschen nur vom Standpunkt unserer eigenen emotionalen Reaktionen auf sie. Wir reagieren mit bestimmten Emotionen auf sie und schreiben ihnen dann unsere Reaktion als ihre Eigenschaft zu. Solange andere tun, was wir wünschen, sagen wir, sie seien gut, freundlich, hilfsbereit usw.
Wir kommunizieren nicht wirklich mit dieser bestimmten Person. Meist kommunizieren wir eher mit unseren eigenen mentalen Projektionen oder machen uns vor, dass wir kommunizieren.
Was ist denn beispielsweise „Mutter“ für das Baby? „Mutter“ ist bloß ein wundervolles Gefühl von Wärme und Geborgenheit, Sicherheit und Wohlbefinden – das ist Mutter. Das Kind kennt seine Mutter nicht als eigenständige Person.
Falls es nun aber überhaupt so etwas wie Gewahrsein voneinander und Liebe füreinander gibt und falls wir zu einem anderen Menschen die Wahrheit sprechen und seiner dabei gewahr sein können – was natürlich lieben heißt, weil Liebe Gewahrsein des Seins der anderen Person ist –, dann werden wir auch wissen, was dieser andere Mensch braucht.
Wenn wir andere wirklich kennen, wissen wir auch, was sie benötigen – im Unterschied zu dem, was sie unserer Meinung nach haben sollten, weil es gut für uns wäre, wenn sie es hätten. Dieses Letztere ist es, was die meisten mit „wissen, was gut für jemanden ist“ meinen. Zu wissen, was andere brauchen, heißt ganz objektiv und ohne Bezug auf sich selbst zu wissen, was gut für sie ist. Dann weiß man, was erforderlich ist, was gebraucht wird, wie geholfen werden muss und so weiter. Dies führt uns zur dritten Ebene Vollkommener Rede oder zur dritten Stufe von Kommunikation.
Dem Buddha zufolge sollen wir etwas sagen, das nützlich ist. Damit ist gemeint, dass unsere Rede das Wachstum – besonders das spirituelle Wachstum – der Menschen fördern soll, mit denen wir sprechen.
Wir sollten so sprechen, dass unsere Gesprächspartner dadurch auf eine höhere Ebene ihres Seins und Bewusstseins gehoben und nicht auf eine tiefere herabgezogen werden. Das Mindeste ist es, positiv zu sein und Wertschätzung füreinander zu zeigen.
Zumindest positiv und anerkennend sollten wir also sein, weil wir erkennen, dass wir der anderen Person mit einer solchen Haltung zu wachsen helfen, ganz anders, als wenn wir negativ, abschätzig und zerstörerisch sind. Konstruktive Kritik, die auf Wertschätzung und echter Sorge für den anderen beruht, ist damit natürlich nicht ausgeschlossen.
Natürlich gibt es auch einen Platz für Kritik und sogar für zerstörende Kritik. Die meisten von uns jedoch ergreifen dieses Mittel viel zu schnell und zu bereitwillig auf Kosten der positiveren Seite. Auch wer noch nicht in der Lage ist, eine ausdrücklich spirituelle Unterweisung oder eine geistige Belehrung zu geben – und nur sehr wenige sind dazu, wenn überhaupt, in nennenswertem Ausmaß fähig –, der kann doch wenigstens hilfreich sein. Wir können wenigstens das Gute anerkennen und loben, das wir in anderen Menschen wachsen oder ans Licht kommen sehen.
Wenn wir in der bisher beschriebenen Weise miteinander kommunizieren – wenn wir die Wahrheit sprechen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit; wenn wir liebevoll reden, also mit Gewahrsein des Seins der anderen Person; wenn wir so reden, dass wir ihr Wachstum fördern und eine gesunde, positive Wirkung auf sie haben; wenn es uns mehr um ihre als um unsere eigenen Bedürfnisse geht; wenn wir unsere Gefühle nicht auf sie projizieren oder sie einfach gebrauchen und ausnutzen –, dann wird dies alles dazu führen, dass wir uns selbst in unserer Rede oder Kommunikation mit anderen Menschen ganz vergessen. Das bringt uns zur vierten und letzten Ebene Vollkommener Rede oder zur vierten und höchsten Stufe der Kommunikation.
4. Die Stufe der Förderung von Eintracht, Harmonie und Einheit
Rede, die Eintracht, Harmonie und Einheit fördert, ist in Wirklichkeit gegenseitige Hilfe – auf der Grundlage von Wahrhaftigkeit und Gewahrsein des Seins und der Bedürfnisse aller Beteiligten. Sie ist Rede, die zu wechselseitiger Selbst-Transzendierung führt. Eine solche Selbst-Transzendierung der Beteiligten ist Vollkommene Rede par excellence. Sie ist nicht bloß Vollkommene Rede, sondern vollendete Kommunikation. Wenn diese Art von Eintracht, Harmonie und Einheit, diese Art des Verstehens vollständig und vollkommen ist, muss nichts mehr gesagt werden. Dies trifft auch für den Alltag zu: Wenn wir jemanden gerade kennen lernen, reden wir zuerst ziemlich viel, tauschen unsere Gedanken aus und werden miteinander bekannt. Je besser wir einander kennen, desto weniger müssen wir in gewissem Sinn noch sagen. Wenn Vollkommene Rede in Harmonie, Einssein und in beiderseitiger Selbst-Transzendierung gipfelt, dann gipfelt sie damit zugleich im Schweigen.
Wir sollten nicht denken, Schweigen sei bloß die Abwesenheit von Lauten. Wenn alle Geräusche verstummen – der Lärm des Straßenverkehrs, das Knarren von Stühlen im Zimmer, das Geräusch unseres Atems und sogar der „Lärm“ unserer Gedanken – dann bleibt keineswegs etwas Negatives, Totes oder bloß ein Vakuum zurück. Was bleibt, ist vielmehr eine lebendige Stille.
In diesem Zusammenhang denke ich an das große Beispiel des indischen Weisen und Lehrers Ramana Maharschi, der 1950 starb. Ich hatte das Glück, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod eine Zeitlang bei ihm zu sein. Er verkörperte diese Haltung in vollkommener Weise. Er saß bloß im Saal seines Aschrams auf einem Podium – auf einer Art Sofa, das mit einem Tigerfell bedeckt war – und sprach fast die ganze Zeit kein Wort. Ich glaube, er hatte fünfzig Jahre lang dort gesessen. Und obwohl der Saal meist voller Menschen war, spürte man beim Eintreten eine merkwürdig schwingende Qualität in diesem Schweigen. Es wirkte buchstäblich, als ströme die Stille aus ihm hervor. Man sah geradezu Wellen der Stille von ihm ausgehen; sie strömten über die Menschen hinweg, in Herz und Verstand eines jeden und befriedeten ihn. Wenn man sich niedersetzte, spürte man die Stille deutlich über sich kommen, beruhigend und besänftigend und alle Gedanken fortschwemmend. Ich meine das nicht poetisch oder bildhaft: Es war buchstäblich zu spüren. Es fühlte sich wie eine positive wellenförmige Kraft an, die sich ständig über einen ergoss. Das war Stille – die wirkliche oder wahre Stille –, die Ramana Maharschi so wunderbar verkörperte.
Eine Stille solcher Art gibt es nur selten. Sogar gewöhnliches Schweigen, die niedrigste Art des Schweigens, gibt es im modernen Leben viel zu selten. Im Leben der meisten Menschen gibt es zu viel Lärm und gewöhnlich auch zu viel Reden. Damit meine ich nicht echte Kommunikation mit Worten, sondern Wortgeklingel, die Vervielfachung von Worten ohne rechten Sinn. Man möchte wünschen, dass unser Sprechen, das so kostbar, so wunderbar und ausdrucksstark ist und solch einen Reichtum darstellt, eine Ausnahme wäre. Zumindest sollte es etwas sein, das wir – wie Essen – mit Überlegung und guter Vorbereitung gelegentlich tun. Doch nur zu häufig gehen die Worte den Gedanken voraus, und während Reden die Regel ist, bleibt Schweigen die Ausnahme.
Vielleicht aber gibt es Hoffnung für uns alle, wie es sie einmal für den jungen Thomas Macaulay gab, über den der geistreiche Sydney Smith einst bemerkte: „Macaulay bessert sich. Er hat Schweigeblitze.“ (He has flashes of silence) Den meisten von uns geht es ebenso. Vielleicht bessern wir uns wirklich; vielleicht haben wir tatsächlich hin und wieder strahlend leuchtende Schweigeblitze. Und vielleicht sollten wir deshalb versuchen, mehr Raum für Stille in unserem Leben zu schaffen. Wir sollten uns mehr Zeit nehmen, einfach still, alleine und für uns zu sein. Wenn wir das nicht ab und zu tun – wenigstens ein bis zwei Stunden täglich – wird uns die Übung von Meditation ziemlich schwer fallen.