Die sechs Geistesverfassungen

Vortrag von Horst Gunkel bei der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen – Januar 2023


Traditionell werden die im bhava cakra, im sog. Tibetischen Lebensrad, dargestellten sechs Segmente als sechs verschiedene Welten angeshen, in denen man wiedergeboren werden kann. Eine andere Interpretation ist, dass dies unterschiedliche Regionen oder Gesellschaftsschichten sind, in denen man wiedergeboren werden kann. Eine dritte Interpretation sagt, dass es sich um verschiedene Bewusstseinszustände handelt, in denen wir in unterschiedlichen Phasen unseres Lebens sind, mitunter sind wir sogar an einem einzigen Tag nacheinander in allen sechs Bewusstseinszuständen. Ich ziehe die letzte Interpratation als die hilfreichste vor, ohne die Richtigkeit der anderen zu leugnen.

Die Götterwelt

Die Welt der devas, der Wesen, die mit den Engeln der abraha­mitischen Religionen vergleichbar sind, wird immer ganz oben in diesem Kreis der sechs Welten dargestellt, was darauf hinweist, dass diese Welt als die beste, hochentwickeltste gilt. In der Götterwelt ist der Leidensdruck am geringsten. Wir können, wenn wir wollen, diese Sphäre als eine transzendente Welt, in welcher engelsgleiche Wesen wohnen, verstehen. Doch auch diese devas sind keineswegs vollkommen, im Buddhismus gelten nur Arahats und der Buddha als vollkommen.

Da die devas nicht vollkommen sind, unterliegen sie dem Rad der Geburten, werden also wiedergeboren, auch wenn es heißt, dass die Götter sehr lange leben, ihre Lebenserwartung soll 80.000 Jahre betragen. Diese Zahl würde ich jetzt nicht auf die Goldwaage legen. Aber da die Lebenserwartung eines gesunden Menschen zur Zeit Buddhas bei etwa 80 Jahre lag, soll damit ausgedrückt werden: 1000 Mal so lang wie die der Menschen – oder auch nur: sehr, sehr viel länger.

Das gilt natürlich nur, wenn wir diese Welt als von der uns bekannten Welt völlig abgetrennt ansehen. Dies ist jedoch nur eine mögliche Sichtweise, eine andere Sichtweise ist, sich vorzustellen, dass diese sog. Götterwelt etwas ist, das in der uns bekannten Welt existiert.

Meine eigene Erfahrung ist, dass ich in einzelnen Lebensphasen in unter­schiedlichen dieser Welten weilte. Die ersten sechs Lebensjahre, meine goldene Kindheit, sehe ich als ein Leben in der Götterwelt an.

Wie wir sehen werden, erscheint in jeder dieser Welten ein Buddha, und zwar mit einem jeweils anderen Attribut. In der Götterwelt erscheint der Buddha (oder Bodhisattva) also mit einer Laute. Der Buddha erscheint dort, um den Wesen in dieser Sphäre zu helfen, und das Attribut, der Gegenstand, den er mit sich führt, steht für die Art der Hilfe, die die Wesen in dieser Welt (oder diesem Geisteszustand) benötigen. In der Götterwelt, die für verfeinerte Genüsse, beispielsweise für den Kunstgenuss, steht, erscheint ein Laute spielender Buddha. Der Buddha spielt ihnen aber nicht irgendetwas zur Unterhaltung, sondern er spielt das, was ihnen hilft. Der Buddha spielt das Lied vom Tod! Warum das? Wenn wir in so guten Umständen wohnen, wenn der Leidensdruck so gering ist, dann fühlen wir uns wohl, wir versuchen vermutlich nicht, uns spirituell weiterzuentwickeln, obwohl wir die beste Gelegenheit dazu hätten. Daher erscheint der Buddha, um die devas darauf aufmerksam zu machen, dass auch die Zeit in diesen optimalen Umständen vergänglich ist, dass sie diese Zeit nutzen können, sich spirituell weiterzuentwickeln und aus dem ewigen Rad der Geburten zu entfliehen. Nie sind die Umstände besser, um sich zu entwickeln und Erleuchtung zu erreichen.

Mir selbst erschien der Buddha, als ich gerade sechs geworden war und zeigte mir den Tod. Mein Vater starb, meine Mutter wurde depressiv, und ihr Wunsch bezüglich der Karriere meines Vaters, wurde auf mich übertragen, etwas, das für ein kleines Kind fast unerträglich war. Ich lebte die nächsten Jahre in der Hölle.

Die Welt der „Titanen“ (asuras)

In der Götterwelt schien alles so angenehm zu sein, dass der Buddha die devas mit dem „Lied vom Tod“, von der Vergäng­lichkeit, ermahnen musste, denn den devas gefiel es eigentlich recht gut in ihrem Ambiente. Man kann sagen, dass von den drei Wurzelübeln Gier (Verlangen), Hass (Abneigung) und Verblendung hier vor allem das Verlangen ein Problem war, das Verlangen, dass es so bleiben möge, gepaart mit der Verblendung, es könne dauerhaft so angenehm bleiben.

In der Welt der asuras ist Abneigung, ist Hass das vorherr­schende Element, es ist die Welt der wütenden Kämpfer. Meist wird asuras mit Titanen übersetzt. Titanen klingt mir zu groß, zu mächtig. Auch ein armer Tropf kann ein wütender Kämpfer sein, der sich in seiner Ohnmacht nicht anders zu helfen weiß, als gegen das – oder gegen diejenigen – anzukämpfen, die in seinen Augen daran Schuld sind, dass es ihm so schlecht geht. Aber natürlich ist da auch Gier vorhanden: mir geht es schlecht, anderen geht es gut – das erweckt Neid.

Und dieser Neid ist es, der die asuras zum Kampf reizt. Im linken Teil des asura-Feldes sehen wir einen Baum wachsen, der über die Begrenzung dieses Feldes herauswächst und ins Feld der devas hinein, woraus man folgern kann, dass die devas die Früchte dieses Baumes genießen können, der auf dem Boden der asuras wächst. Diese sind daher sehr wütend und fordern die Götter zum Kampf heraus. Das Ganze erinnert mich etwas an Klassenkampf, traditionell wird dieser Baum jedoch als Wünsche erfüllender Baum gesehen – allerdings wachsen die wunscherfüllenden Früchte nur im Segment der devas. Die asuras sind darüber so wütend, dass sie versuchen, den Baum zu fällen, weil sie den devas die Früchte neiden. Allerdings wird ein gefällter Baum keine Früchte mehr tragen, auch nicht für die asuras, diese verfolgen also aus Wut und Neid eine nicht nachhaltige Strategie – und damit kommt auch das Element der Verblendung hinein.

Ich war übrigens gerade frisch zum Buddhismus gekommen, als ich das erste Mal in Ladakh das bhāva cakra zu Gesicht bekam. Ich sah die sechs Welten und erkannte sofort, dass dies Geistesverfassungen sind, die ich aus eigenem Erleben kannte – ich erkannte mich in fünf dieser Sphären wieder, nur gegenüber einer hatte ich Unverständnis, gegenüber der Welt der asuras - das konnte ich mir damals nicht wirklich als eine in mir mögliche Geistesverfassung erkennen. Und warum? Weil ich in dieser Phase meines Lebens selbst in der asura-Welt lebte, ich verdrängte das Offensichtliche, weil ich es wohl nicht wahr­haben wollte. Ich war damals ein wütender Kämpfer, Fraktions­vorsitzender in zwei Regionalparlamenten, Oppositions­führer. Natürlich war ich da ein wütender Kämpfer, war ich da ein asura. Aber es dauerte noch über ein Jahr, bis ich dessen Gewahr wurde. Ich bin dann aus beiden Parlamenten, dem Kreistag des Main-Kinzig-Kreises und der Regionalversammlung Südhessen, mitten während der Legislaturperiode durch Rücktritt ausgeschieden – sehr zum Unverständnis meiner Fraktionskolleg*innen.

In dieser Welt erscheint ein Buddha mit einem Schwert. Das steht dafür, die inneren Feinde zu bekämpfen: Gier, Hass und Veerblendung. Ich habe das Schwert des Buddha angenommen. Nicht um äußere Feinde zu bekämpfen, sondern um mich selbst zu besiegen: meine Gier, meinen Hass, meine Verblendung.

Die Hungrigen Geister

In der unteren Hälfte der Darstellung – aber nie ganz unten, dort sind die Höllenbewohner – finden sich die pretas, die hungrigen Geister. Man kann das so verstehen, dass das Wesen sind, die in einer Hungerregion leben. Wenn wir jedoch das bhāva cakra als Geisteszustände sehen, so sind das Leute mit neurotischer Gier. Das ist keiner und keinem von uns fremd. Wir alle haben weit mehr als wir brauchen! (Und wünschen uns doch von der einen oder anderen Sache noch mehr oder noch besseres.)

Hungergeister sind Wesen, die der irrigen Annahme sind, dass Besitz sie glücklich mache. Unsere kapitalistisch-konsumis­tische Gesellschaftsordnung züchtet gerade­zu Hungergeister heran: die einen gieren nach Konsum, die anderen nach Profit, manche nach beidem. Ursache dieser Gier ist die irrige Annahme, dass uns Besitz glücklicher machen würde. Klar, wenn jemand nur einen Pullover, eine Hose und gar keine Schuhe hat, dann ist es angemessen, dass er versucht, etwas mehr zu bekommen. Aber dies ist in unserer Gesellschaft nicht der Fall. Wir sind – was die Versorgung mit Gütern angeht – überversorgt.

Auch bei den hungrigen Geistern erscheint ein Buddha. Er bietet den pretas Nahrung von einer Art, die für sie zuträglich ist. Das interpretiere ich so, dass man erkennen muss, was einem wirklich zuträglich ist, dass wir die Dinge nicht mehr mit den Augen eines Hungergeistes sehen, sondern dass wir zu einer objektiven Sichtweise der Dinge zurückkehren. Wir müssen erkennen, ob und inwieweit die Objekte uns wirklich Nutzen stiften können. Wir müssen dafür sorgen, dass Verblendung uns nicht zu irrigen Projektionen veranlasst. Wir dürfen von nichts und auch von niemandem etwas erwarten, was dieses Ding (oder diese Person!) nicht zu leisten vermag.


Die Höllenbewohner

Auf dem Bild sehen wir links eine Person, die auf einem Baum gepfählt wurde, darunter Dämonen, die jemanden zersägen, noch weiter unten Menschen in einem Kochtopf, rechts davon einen Kopf, der sich in einem Ofen befindet, darüber Menschen in siedend heißem Wasser, eine Person ganz rechts scheint von einer Würgeschlange zerdrückt zu werden. Über alle dem erscheint eine furchterregende Figur – Yama – der Herr der Hölle. Das alles wirkt nicht sehr buddhistisch, es erinnert an christliche Höllenvorstellungen. Tatsächlich sind diese Bilder aus der indischen Mythologie und dem Hinduismus entlehnt, etwas das im alten Indien den Menschen bekannt war. Diese Vorstellungen gehen letztendlich auf die Bhagavad Gita zurück.Sie haben auch das mittelalterlich-christliche Höllenbild beeinflusst.

Für unsere Zeit genügt es, einfach zu erwähnen, dass wir in Geisteszuständen sein können, in denen wir höllische Qualen erleiden. Ich glaube darunter kann sich jede*r etwas vorstellen.

Der Buddha, der in dieser Region erscheint, trägt ein Gefäß bei sich mit Ambrosia, mit Göttertrank. Wenn wir uns in derart negativen Geisteszuständen befinden, benötigen wir erst etwas Erleichterung, etwas Entspannung, dies symbolisiert der Götter­trank: eine Dosis Gegengift gegen das höllische Empfinden. In Zeiten höchster psychischer Angespanntheit ist Entspannen oftmals das einzige, was hilft.

Das Tierreich

Die Welt der Tiere erscheint im Lebensrad immer in der unteren Hälfte. Wenn wir uns das Bild ansehen, so erscheint dies Sphäre viel angenehmer und friedlicher als die beiden vorange­gangenen.

In der Tierwelt befinden wir uns dann, wenn uns nur sinnliche Gelüste leiten. Wenn wir uns als Menschen in dieser Sphäre befinden, so suchen wir einfach nur Nahrung, Sex und Behag­lichkeit. Gelingt uns das, so werden wir ganz handzahm und freundlich. Werden wir aber enttäuscht – denn wir sind dabei von Verblendung geleitet – dann können wir ganz plötzlich zu einem reißenden Wolf werden.

Und was bringt der Buddha in die Tierwelt? Vielleicht erstaunt es uns, wenn wir sehen, was er den Tieren zeigt: ein Buch! Aber wir erinnern uns: es geht ja nicht um wirkliche Tiere, sondern um uns, wenn wir unseren animalischen Gelüsten folgen. Der Buddha bringt den im Hedonismus Verirrten Bildung, er bringt Kultur. Wenn wir uns bilden, uns mit den Künsten, der Literatur und den Wissenschaften beschäfti­gen, dann verfeinert sich unser Geist allmählich. Was der Buddha uns anbietet, ist Bildung und Sozialisation. Nicht umsonst gehört zu jeder sinnvollen Entwicklungspolitik, den Analphabetismus zu beseitigen, den Menschen die Buchstaben und das Buch zubringen.

Die Menschenwelt

In der Menschenwelt – in der Welt der wahren Menschen – also dann, wenn wir in keiner der anderen geistigen Verfassungen weilen, finden wir ein recht ausgewogenes Verhältnis vor. In dem Bild sehen wir unten links ein Paar beim Liebesspiel, rechts eine Mutter mit Baby, in der Bildmitte einen Mann in der Blüte seines Lebens zu Pferde, daneben eine alte und gebeugte Person und rechts davon das Lebensende, dargestellt durch eine Leiche in einem Bündel, das zum Leichenacker getragen wird. Und darüber etwas, das hilfreich für die spirituelle Entwicklung ist: eine Klosterschule, in welcher der Dharma gelehrt wird.

Der Buddha bringt auch hier das, was angemessen ist: eine Bettelschale und einen Bettelstab, die Insignien des Wander­mönchs bzw. der Wandernonne.

Wenn wir wirkliche Menschen sind und nicht gerade als Hungergeist, Tier, asura oder Höllenbewohner agieren, dann ist es angemessen, uns spirituell weiterzuentwickeln, um eine noch höhere Stufe als die des Menschen zu erreichen, die nächste Evolutionsstufe: Buddhaschaft. Das ist etwas, das keine Spezies insgesamt erreichen kann, sondern das ist etwas, das jede und jeder nur durch spirituelle Arbeit an sich selbst erreichen kann, durch Beschreiten des Dreifachen Pfades aus Ethik, Meditation und Weisheit.

Wenn wir dem Buddha folgen und den spirituellen Pfad beschreiten, dann begeben wir uns auf einen Weg, der mittelfristig zu Glück und langfristig zur Befreiung aus dem bhāva cakra, aus dem Rad des Lebens führt. Zunächst sehen wir uns jedoch noch den äußeren Kreis des Rades des Lebens an, die Kette des bedingten Entstehens. Den Weg zu Glück und Befreiung werde ich im Rahmen der Vortragsreihe zur Evolution erläutern.


Zu Meditation am Obermarkt
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